Dienstag, 25. Juni 2019 · Nr. 144 100 Jahre MT Mindener Tageblatt 35
„Auf den Zahn fühlen: Nichts lieber als das“
In Ostfriesland als Journalist zu arbeiten, macht eine Menge Spaß, sagt Stephan Schmidt.
Denn große Themen gibt es auch im kleinen Aurich mehr als genug.
Wenn es mal mehr sein darf als HDGDL :-) …
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Von Stephan Schmidt,
Ostfriesische Nachrichten
Leer. Ostfriesen sind nicht so verstockt,
wie ihnen manchmal nachgesagt
wird. Sie sind auch nicht alle so albern
wie Otto Waalkes. Erst recht sind
sie nicht so blöd wie in den Ostfriesenwitzen.
Sie sind – sofern man überhaupt
ein Verhalten verallgemeinern
kann – tendenziell offen und tolerant.
Pöbeleien im Rahmen der
Flüchtlingskrise nach dem Jahr 2015?
Gab es bei uns nur wenige. Andere Redaktionen
in ganz Deutschland veranstalten
sogenannte Hate-Slams, bei
denen Hasskommentare gegen Journalisten
vor Publikum vorgetragen
werden. Dafür hätten wir bei den kleinen
Ostfriesischen Nachrichten zu
wenig Material. Der Hass auf uns
reicht nicht. Und darüber sind wir
froh.
In Ostfriesland als Journalist zu
arbeiten, macht eine Menge Spaß. Uns
bringen Leserinnen und Leser Kuchen
und Kekse in die Redaktion, um
sich für einen „schönen Artikel“ zu bedanken.
Das kommt vor. Das für mich
beste – und häufigste – Lob ist aber
das für einen treffenden Kommentar.
Eine Kritik zu einem lokalen Thema
auf den Punkt zu bringen, schafft
Identifikation bei den Lesern. Sie fühlen
sich verstanden und
gegenüber denen, die
Macht und Einfluss haben,
vertreten. Bei einem Messe
Auftritt vor einigen Tagen
sagte mir ein Leser, ich
solle „denen da oben“ weiter
auf den Zahn fühlen.
Nichts lieber als das.
Auch wenn ein Kommentar
einige Leser verärgert
und sie entschieden anderer
Meinung sind, freue ich mich darüber.
Gleichgültigkeit gegenüber
dem, was wir machen, sorgt für Abo-
Kündigungen. Unsere Geschichten
sollten etwas bedeuten. Und allem
Auflagenschwund von Zeitungen
zum Trotz, ist das bei uns
noch der Fall. Wir arbeiten
zumindest hart daran.
Spannende Themen gibt
es in Ostfriesland mehr als
genug. Großes spiegelt sich
im Kleinen, im Landkreis
Aurich, wider. Dort leben
die meisten Mitarbeiter des
zweitgrößten Volkswagen-
Werks Deutschlands. VW
krempelt in Emden alles
um. Das Werk wird komplett auf die
Herstellung von E-Autos umgerüstet.
Das kostet eine Milliarde Euro. Der
Erfolg ist fraglich. Batteriebetriebene
SUVs sollen dort gebaut werden.
Braucht jemand so etwas? Von der
Antwort hängt die Zukunft der rund
10.000 Mitarbeiter ab, von denen viele
unsere Leser sind.
Kaum etwas rüttelt unsere Leser
mehr auf als das Thema Krankenhaus.
Seit 2012 schreibt die Auricher
Klinik Verluste von mehr als zehn Millionen
Euro jährlich. Krankenhausärzte
sind auf dem Land schwer zu finden.
Die Emder haben mit ihrem
Krankenhaus die gleichen Probleme.
Die mögliche Lösung: eine Zentralklinik.
Dieses mehrere Hundert Millionen
Euro teure Projekt setzen der
Landkreis Aurich und die Stadt Emden
nach zwei Bürgerentscheiden
jetzt gemeinsam um – mitten auf dem
platten Land, so ziemlich in der Mitte
von nirgendwo, genauer gesagt: in
der Gemeinde Südbrookmerland. Die
ist zufälligerweise nach der Stadt Aurich
das zweitstärkstes Verbreitungsgebiet
der Ostfriesischen Nachrichten.
Das Projekt ist ein Segen für das
beschauliche Südbrookmerland und
eine Katastrophe für die Stadt Aurich.
Das dortige Krankenhaus wird
geschlossen. Ein vergleichbares Projekt
gibt es in Niedersachsen bis jetzt
nur in Schaumburg. Bis 2026 soll die
Zentralklinik stehen.
Und dann gibt es noch Enercon. Das
ist einer der Weltmarktführer beim
Bau von Windkraftanlagen. Es ist ein
Auricher Unternehmen. Dort wurde
es gegründet, und dort arbeiten rund
4000 Beschäftigte. Die Gewerbesteuern
von Enercon füllten viele Jahre
lang die Kassen der Stadt Aurich.
Die gönnte sich so einiges: ein neues
Hallen- und Freibad, ein Familienzentrum,
einen teuren Umbau der
Park- und Wallanlagen. Und knapp 27
Millionen Euro für das sogenannte
Energie-Erlebnis-Zentrum (EEZ). Das
Ding sieht futuristisch aus, aber die
eher langweilige Ausstellung zum
Thema Energiewende zieht kaum Besucher
an. Meine Meinung: Das EEZ
ist ein Flop. Immer wenn ich das geschrieben
habe, gab es reichlich Zustimmung
von den Lesern.
In Aurich ist gerade ein neuer Bürgermeister
gewählt worden. Er beginnt
zu keinem leichten Zeitpunkt:
Die goldenen Jahre scheinen für die
Stadt vorbei zu sein. Für uns als Journalisten
sind es aber spannende Zeiten.
Denn große Themen gibt es auch
im kleinen Aurich mehr als genug.
Auch nach vielen Jahren im Beruf,
trotz der viel beschworenen Medienkrise
spüre ich diesen besonderen
Kick, diese Art Goldgräberstimmung.
Stephan Schmidt (45), Chefredakteur
der Ostfriesischen Nachrichten
(ON). Auflage: 12.000 Exemplare.
Stephan Schmidt, Chefredakteur der Ostfriesischen Nachrichten,vor dem Energie-Erlebnis-Zentrum. Das 27-Millionen
Projekt ist ein Symbol für Verschwendung, kommentierte er zur Freude seiner Leser. Foto: pr
Journalisten anderswo
■ Wie arbeiten Lokaljournalisten
eigentlich in anderen Teilen
Deutschlands?
Zum MT-Geburtstag erzählen
vier ganz verschiedene Männer
und Frauen aus ihrem Alltag.
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