Dienstag, 25. Juni 2019 · Nr. 144 100 Jahre MT Mindener Tageblatt 3
Da geht was
Kaninchenzüchter, Schützenvereine, Straßenfeste und Blasmusik. Kann der Lokaljournalismus wirklich nicht mehr?
Nein, sagt das Klischee. Die Wahrheit ist: Kann er sehr wohl. Eine Positionsbestimmung.
Von Benjamin Piel
Minden (mt). Wann immer mich jemand
nach meinem Beruf fragt, geht
es los. „Und, was machst du so?“ Oha,
gefährliche Frage. Denn kurz darauf
startet unter Garantie das Geblubber.
„Lokaljournalist? Schützenfest
und so?“ Und dann schiebt, wer immer
das sagt, noch ein mitleidiges Lächeln
hinterher. Ganz so, als wären
die, die für ein Lokalmedium, arbeiten,
irgendetwas zwischen debil und
bemitleidenswert. Ich habe es satt!
Ja, Schützenfeste gehören auch dazu.
Schließlich zeigen wir, was los ist
in Minden-Lübbecke. Und die Schützen
gehören mit ins Bild. Aber unser
Kerngeschäft sind nicht Schützenfeste
und Kaninchenzüchter, nicht Straßenfeste
und Blasmusik. Vielleicht
war das einmal anders – aber diese Zeiten
sind vorbei.
Das ist kein Zufall. Früher drängten
alle in die Zeitung. Wir hatten die
Druckerpresse – sonst niemand. Wer
nicht in der Zeitung stand, existierte
in der Wahrnehmungder breiten Masse
nicht. Für Zeitungsleute waren das
bequeme Zeiten. Alle kamen, alle wollten
hinein, alle wollten es lesen. Denn
sonst gab es ja niemanden, der eine
Verbindung in die Öffentlichkeit hinein
herstellen konnte. Das Geschäft
der Verleger und Lokalredakteure war
todsicher, unanfechtbar und verhältnismäßig
simpel – man schrieb, was
offensichtlich passierte.
Das hat sich geändert. Die Verleger
sind zwar immer noch die mit
den dicken Druckmaschinen. Aber sie
haben eine unendlich starke Konkurrenz
bekommen: uns alle. Jeder,
der ein Smartphone besitzt, ist zum
Publizisten geworden. Niemand ist
mehr darauf angewiesen, in der Zeitung
W e n n
J o u r n a l i s m u s
die Wahrheit ist
warum wird seine Auflage
immer kleiner ?
zu stehen. Ein paar Klicks genügen,
um selbst dafür zu sorgen, öffentlich
wahrgenommen zu werden.
Bei Facebook, Twitter, Instagram und
Co. kann jeder von uns von überall
auf der Welt aus Öffentlichkeit herstellen.
Von Zeitungen als Mittler
sind Schützenvereine und Kaninchenzüchter
schon lange
nicht mehr abhängig.
Daraus ließe sich
schließen, der Lokaljournalismus
habe seine
Aufgabe verloren. Und
das stimmt auch – solange
man davon ausgeht,
dass seine einzige Aufgabe es
ist, das Offensichtliche abzubilden.
Doch das ist kein Journalismus. Der
fängt – streng genommen – erst da
an, wo das auf der Hand Liegende aufhört.
Unsere Aufgabe ist es, mehr und
mehr wegzukommen vom Referieren
dessen, was jeder Verein selbst
bei Facebook einstellen kann. Hin
zum Ausgraben dessen, was sonst im
Verborgenen bliebe. Nur wenn wir als
Lokalzeitung diesen Wandel hinbekommen,
können wir ernsthaft erwarten,
dass die Menschen in der Region
sich für das interessieren, was
wir anbieten.
Das zu schaffen, ist eine große Aufgabe.
Viele Jahre lang sind die Leser
mit verhältnismäßig wenig zufrieden
gewesen. Nun stellen sie Forderungen.
Das ist berechtigt, kann aber
trotzdem nerven. Wir sollen mehr
liefern. Wir sollen relevante Informationen
zusammentragen, die es
sonst nirgendwo gibt. Wir sollen
Orientierung bieten in einer immer
komplexeren Umgebung – auch vor
der eigenen Haustüre. Unsere Leser
sind – zu Recht – gnadenloser geworden.
Wenn sie das Gefühl haben,
dass wir ihnen nichts exklusiv
Relevantes liefern, wenden sie sich
ab. Mindener Tageblatt lesen, einfach
weil's zum guten Ton gehört –
das war einmal.
Für uns Journalisten ist diese Entwicklung
auf der einen Seite ein
schmerzhafter Prozess. Es tut immer
weh, festzustellen, dass etwas, das
jahrzehntelang verlässlich funktionierte,
an Bedeutung verliert. Aber es
liegt für uns auch eine große Chance
in dieser Entwicklung. Es kommt immer
mehr darauf an, was wir gelernt
haben und beherrschen: auf echten
Journalismus, auf Recherche, auf die
kritische Begleitung von Prozessen,
die in der Region passieren. Wir müssen
nur tun, was wir können!
Warum geschieht nichts mit der
Obermarktpassage? Warum wird die
Rathaussanierung immer teurer? Woher
kommen die Probleme der Mühlenkreiskliniken?
Warum haben sie
einen ihrer Chefärzte erst geschasst
und dann wieder eingesetzt? Was tut
sich rund um die Multihalle? Warum
handeln Stadt- und Kreisverwaltung
nicht transparenter? Wie sieht
es eigentlich mit Clans in Minden-
Lübbecke aus? Und warum haben immer
mehr Menschen Ärger mit ihren
Vermietern, hinter denen sich Investmentfonds
verbergen?
Wir haben uns aufgemacht, diese
und viele weitere Fragen zu beantworten.
Wir bleiben dran an dem, was
die Öffentlichkeit bewegt. Und zum
Glück gilt ganz gewiss: Da geht was!
Der Autor ist erreichbar
unter (05 71) 882 259 oder
Benjamin.Piel@MT.de
Wir bleiben dran an dem, was die
Öffentlichkeit bewegt.
Auf die Kommunikation
kommt es an
Journalisten müssen mit Menschen in Kontakt sein
Minden (bp). Weg vom Offensichtlichen
– hin zur exklusiven
Tiefe (siehe Artikel oben).
Das ist das eine, ohne das der
Lokaljournalismus keine
Chance hat. Das Zweite ist die
Art der Kommunikation, die
sich dramatisch gewandelt hat.
Früher funktionierten Zeitungen
in eine Richtung. Die Journalisten
schrieben, die Leser lasen.
Und das war es dann beinahe
auch schon.
Manchmal verhalten wir uns
noch so, als habe sich daran
nichts geändert. Tatsächlich ist
aber auch wirklich alles anders
geworden. Menschen sind
es nun gewohnt, mitreden zu
können. Immer und überall –
zu allem und jedem. Das kann
ein Fluch sein, denn weiß Gott
nicht jeder ist berufen, seine
Meinung über jedes Thema
auszubreiten.
Es ist aber vor allem ein Segen,
weil der Mensch am meisten
dort Mensch ist, wo er mitreden
und bestenfalls auch
mitgestalten kann, statt mundtot
und handlungsfähig zu
sein. Sind wir als Medium so
ein Ort?
Direkter, sozialer, digitaler – das ist
die Richtung, in die es geht.
Mal mehr, mal weniger. Aber
zumindest haben wir ehrlich
erkannt, dass wir raus müssen
aus der Kommunikation der
Einbahnstraße. Wir brauchen
Rückkanäle und wollen sie nutzen.
Journalismus gelingt oft
am besten, wenn sein Entstehungsprozess
dynamisch ist.
Leser und Nutzer haben ein
Problem, wir nehmen es auf
und fragen nach, ob auch andere
es kennen. Daraus entwickeln
sich Fragen an Behörden
und Verwaltungen. Vor allem
diese: Habt ihr eine Lösung
anzubieten? Nur wenn
wir Journalisten die Fragen formulieren,
die vielen
auf den Nägeln
brennen, Lösungen
einfordern
und am Ball
bleiben, wenn wir
die Welt durch die
Brille der ganz
normalen Menschen
und nicht durch die Brille
der Verwaltungen und Behörden
sehen, können wir erwarten,
dass die normalen
Menschen uns nicht als abgehoben
und der Welt entrückt
empfinden.
Nur wenn wir hören, was die
Menschen stört und was sie
möchten. Nur wenn wir hineinhorchen
in die Gesellschaft
und erkennen, wo der Schuh
drückt. Nur wenn wir diese Forderungen
aufnehmen, ihnen
Ausdruck verleihen und einen
Kontakt herstellen zwischen
Bevölkerung und übergeordneten
Ebenen, tragen wir der
immer sozialeren, direkteren,
digitaleren Kommunikation
Rechnung, statt uns vor ihr zu
verschließen.
Wir bemühen uns deshalb,
auf Hinweise einzugehen. Wir
binden Menschen in Recherchen
ein (etwa die Crowd-Recherche
bei „Wem gehört Minden?“).
Unsere Bitte an alle Leser
und Nutzer ist: Sprechen
Sie mit uns, bringen Sie sich
ein, kontaktieren Sie uns, lassen
sie uns zusammenwirken
– zum Wohl der Region.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Produkt
gehört zum Redaktionsalltag. MT-Foto: Jäger