Dienstag, 25. Juni 2019 · Nr. 144 100 Jahre MT Mindener Tageblatt 11
„Eine neue Kultur der Recherche“
Wie ist es um den Journalismus bestellt nach dem Betrugsfall um den Ex-Spiegel-Redakteur Claas Relotius?
Der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Volker Lilienthal ist geteilter Meinung.
Am liebs te n
Am » W E I L ‘ S A U S D E R
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A N I T A E B E R L E I N , W E Z - L I E F E R A N T I N
WEIL‘S AU S DER
V O M H O F M E Y E R Z U D R E W E R I N BI E L E F E L D
Von Benjamin Piel
Minden (mt). Beim Nachrichtenmagazin
„Der Spiegel“ ist passiert, was
kaum jemand für möglich gehalten
hätte. Der frühere Redakteur Claas Relotius
hat in seinen Texten nicht nur
ein bisschen geschummelt. Er hat gelogen
und erfunden, was das Zeug
hielt. Ende 2018 flog er auf.
Die Betrügereien waren Wasser auf
die Mühlen aller „Lügenpresse“-
Rufer. Das Ansehen des Spiegels
sieht der gebürtige Mindener Medienwissenschaftler
Prof. Dr. Volker
Lilienthal als beschädigt an. Und
was ist mit dem Ruf der übrigen Medien?
Sie haben die Relotius-Aufarbeitung
des Spiegels verfolgt. Hat er es gut
gemacht?
Vom Resultat her gedacht war das
durchaus überzeugend. Der Spiegel
hat nicht mit Selbstkritik gespart.
Als die Aufklärungskommission startete,
hatte ich mich gefragt, ob die Besetzung
mit zwei Spiegel-Leuten und
nur einer Externen richtig sein könne.
Da hätte ich mir schon noch jemanden
aus der Wissenschaft gewünscht.
Aber das Ergebnis ist trotzdem gelungen.
Es gibt nun einen Maßstab,
an dem man den Spiegel in Zukunft
messen kann.
Wie sehr hat der Abschlussbericht
Sie überrascht?
Die Resultate sind erschreckend, über
den einen Fälscher Relotius hinaus.
Wenn im Gesellschaftsressort das Personal
für Geschichten vorab gecastet
wurde, dann bedeutet das eine Zurichtung
der Wirklichkeit, die hochproblematisch
ist. Beim Fernsehen ist
das früh eingerissen und das hat offenbar
auf andere Medien ausgestrahlt.
Dass nicht die Wirklichkeit geschildert
wird, sondern etwas, das besonders
stimmig klingen soll, hat mit
Journalismus nichts zu tun. Journalisten
müssen danach fragen, was
stimmt, und nicht danach, was stimmig
klingt.
Aber hätten Medien nicht viel
früher darauf kommen müssen, dass
Relotius Märchen erzählt?
Es hat in den Jurys der vielen Preise,
die er gewonnen hat, immer Leute gegeben,
die Zweifel geäußert haben. Relotius
saß scheinbar im Kopf seiner
Protagonisten und da stellte sich für
einige die berechtigte Frage: Wie
konnte er das alles wissen? Er hat, als
er noch freier Journalist war, wohl
auch keine Reisekosten verlangt. Da
hätten Redaktionen durchaus stutzig
werden können.
Hat es auch etwas mit Arbeitsverdichtung
und der immer höheren
Geschwindigkeit zu tun, in der
Redaktionen arbeiten?
Bei der Frage nach der Sorgfalt der Medien
bin ich mit Pauschalurteilen vorsichtig.
Aber natürlich, wenn immer
weniger Journalisten immer mehr
arbeiten müssen, dann kann man annehmen,
dass eine Gefahr besteht,
dass sie weniger sorgsam arbeiten
können. Insgesamt sehe ich bei vielen
Medien aber auch eine Entwicklung
und Orientierung in eine ganz
andere Richtung: hin zu mehr und tieferer
Beschäftigung mit komplexen
Fragestellungen. Da erkenne ich
durchaus eine neue Kultur der Recherche.
Viele Journalisten sind von
innen heraus für ihren Beruf motiviert
und liefern sehr gute und relevante
Arbeit ab.
Welche Auswirkungen hat der Fall
Relotius auf die Branche insgesamt?
Für die medienfeindlichen Milieus,
die „Lügenpresse“ schreien, ist das ein
gefundenes Fressen. Ebenso für die
Klimawandel-Leugner, denn Relotius
hatte auch an einem Text über den
Klimawandel mitgearbeitet und beschrieben,
dass drei Orte des Insel-
Staats Kiribati geräumt worden seien.
Später stellte sich heraus, dass das
so nicht stimmte und Relotius für die
Recherche auch gar nicht dorthin gereist
war. Eigentlich hatten sich die Lügenpresse
Anfeindungen Ende vergangenen
Jahres etwas beruhigt und
wurden dann durch den Skandal wieder
neu angefacht. Das Ansehen des
Spiegels ist zweifelsohne beschädigt.
Mal abwarten, wie sich das innerhalb
der kommenden Jahre entwickelt.
Schwere Auswirkungen für die Branche
als ganze nehme ich allerdings
nicht wahr.
Wäre so ein Fall auch bei einer
Lokalzeitung denkbar?
Relotius hatte es leicht, weil er aus fernen
Ländern berichtete oder zu berichten
behauptete. Im überschaubaren
Nahraum wäre das in dieser
Form dagegen undenkbar. Da kennen
die Leute sich und es gibt dadurch
viel mehr Möglichkeiten der
Überprüfung. Ein Autor müsste schon
mit perfekt gefälschten Dokumenten
arbeiten und selbst das würde
schnell auffliegen.
In welchem Zustand sehen Sie
den Lokaljournalismus?
Die aktuellste Inhaltsanalyse von der
Universität Trier bezieht sich auf 103
Zeitungen und ist gerade einmal ein
Jahr alt, aus wissenschaftlicher Sicht
also sehr aktuell. Das Ergebnis war,
dass sich Themenvielfalt und Unabhängigkeit
verbessert haben, die Vielfalt
der Darstellungsformen und die
Bereitschaft zu kritischer Berichterstattung
aber oft noch zu wünschen
übrig lassen. Auch Elemente der
Partizipation kommen vielerorts zu
kurz und da sehe ich eine große Chance:
die Bürger teilhaben lassen am lokalen
Geschehen, etwa durch Veranstaltungen
mit Politikern oder anderen
Gesprächspartnern.
Noch sind einige Lokalzeitungen zu
wenig Stimme des Bürgers. Der evangelische
Publizist Robert Geisendörfer
hat gesagt, Medien müssten den
Sprachlosen eine Stimme geben. Das
ist ein wichtiger Punkt, den Lokalmedien
oft zu wenig realisieren. Und noch
etwas kommt zu kurz: Lösungen aufzuzeigen.
Das wäre ein guter Weg, um
Menschen zu beweisen, dass der Journalismus
eben nicht nur einen negativen
Blick auf die Verhältnisse wirft:
Die Menschen haben ein Problem und
die Journalisten fragen eine Lösung an,
bei Verantwortlichen, Experten oder
wo immer man die finden kann.
Immer mehr Städte, Gemeinden,
Institutionen und allemal Firmen
werden mit eigenen Medien aktiv.
Ist das ein Problem?
Das gibt es überall in Deutschland und
das Internet hat in dieser Hinsicht
Möglichkeiten eröffnet, die es zuvor
nicht gegeben hat. In der Wissenschaft
nennen wir das Disintermediation
– die Rolle des Vermittlers hat
an Bedeutung verloren, die Gemeinden
können die Bürger nun online direkt
erreichen. Journalistische Medien
macht das aber nur scheinbar
überflüssig. Denn Institutionen haben
immer partikulare Interessen
und sind eben nicht unabhängig. Genau
das dürfen Institutionen auch
nicht suggerieren, wenngleich sie ein
Recht darauf haben, sich direkt an den
Bürger zu wenden.
Nixon hatte in der Watergate-Affäre
die Absicht, einen Kanal an den Medien
vorbei in Richtung Bevölkerung
zu finden, aber ein solcher Bypass hat
damals noch nicht funktioniert. In
Twitter hat Trump diesen Bypass nun
gefunden und nutzt ihn konsequent
in seinem Sinne.
Doch das hat den Medien gerade
nicht ihre Bedeutung genommen,
sondern ihre Relevanz unterstrichen.
Nur sie sind es, die unabhängig prüfen,
was bedeutend ist – und was überhaupt
stimmt.
Dr. Volker Lilienthal beobachtet seit Jahrzehnten die Medienentwicklung. Hier ist er Laudator bei der Verleihung
des Otto-Brenner-Preises für kritischen Journalismus. Foto: Otto-Brenner-Stiftung/Christian von Polentz
Zur Person
■ Volker Lilienthal ist Rudolf-Augstein
Stiftungsprofessor für Praxis
des Qualitätsjournalismus an
der Uni Hamburg.
■ Bis zu seiner Berufung war er
Verantwortlicher Redakteur des
Fachdienstes „epd medien“ in
Frankfurt am Main.
■ Sein Studium der Journalistik an
der Universität Dortmund schloss
er 1983 ab. Darauf folgte ein Studium
der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft
an der Universität
Siegen, das er mit der
Promotion beendete.
■ Lilienthal ist seit 2005 Juror beim
Otto-Brenner-Preis für Kritischen
Journalismus und Mitherausgeber
der Zeitschrift „Message“. Als
unabhängiger Sachverständiger
wurde er 2019 in den Verwaltungsrat
des Deutschlandradios
gewählt.