DEMENZ
Mit dem Alter steigt das Risiko für Demenz.
Wer die Dinge so betrachtet, bekommt
Angst. Muss das sein? Nein, sagt Beatrix Gulyn.
Für sie ist die Vergesslichkeit eine neue
Lebens phase. Gemeinsam mit der Wiener
Selbst hilfegruppe „Promenz“ will sie das negativ
behaftete Bild des krank haften Vergessens
zum Besseren wenden.
Kennen Sie das? Man schlendert eine
Straße entlang, ist guter Dinge – da löst
sich aus der Masse ein Gesicht und spricht
einen an: „Hallo, wie geht’s?“ Leichte
Panik wallt durchs Großhirn und mit ihr
die Frage: „Ach Gott, bitte, wer ist das
bloß?“ Was solche Momente angeht,
kann man von Menschen mit Demenz
etwas lernen. Von Beatrix Gulyn aus Wien
zum Beispiel. Die 72-jährige Ärztin lebt
seit 14 Jahren damit und hat den Mut
zur Lücke.
„Ich sage dann, tut mir leid, ich
kenne so viele Leute und kann das nicht
mehr alles verarbeiten.“ Ihre blaugrünen
Augen halten den Blick, sie streicht eine
Strähne graublonder Haare aus der Stirn
und erklärt: „Die Leute gehen freundlich
mit dieser Offenheit um.“
Demenz erschrickt vor allem Ältere.
Vor dem 65. Lebensjahr sind nur wenige
betroffen, aber unter 85- bis 89-Jährigen
leidet schon jeder Vierte daran. Quälend
kann vor allem das erste Stadium sein,
wenn man sich noch bewusst ist, dass
die Demenz begonnen hat und mit fortschreitendem
Verlauf zu Hilflosigkeit,
Kontrollverlust und Inkontinenz führen
wird. Auch die Tatsache, dass weder eine
Impfung noch irgendeine Therapie helfen
könnte, schürt Angst.
Mutet es da nicht seltsam an, darüber
nachzudenken, ob man von Menschen
mit Demenz etwas lernen kann?
Klingt es am Ende vielleicht sogar zynisch,
zu behaupten, dass vergesslich zu
werden auch Vorteile birgt? Doch beides,
lernen von der Krankheit und Chancen,
mit ihr zu leben, sind Aspekte, die oft
übersehen werden. Das meint nicht nur
Beatrix Gulyn. Sondern auch der österreichische
Verein „Promenz“, für den sie
seit Jahren unterwegs ist. Er unterstützt
Menschen, die an Vergesslichkeit leiden.
Von Demenz redet übrigens keiner der
Mitglieder. Der Begriff sei zu negativ
belegt, erklärt Geschäftsführer Raphael
Schönborn, der zum Unterstützerkreis
zählt, also selbst nicht erkrankt ist. Was
ihn antreibt? „Wir wollen der Krankheit
den Schrecken nehmen.“
Das fängt schon mit dem Gruppennamen
an. Um sich positiv abzugrenzen,
haben die Mitglieder ihre Gemeinschaft
„Promenz“ getauft, was heißt, dass man
„für den Geist“ eintritt und damit im
Gegensatz zu dem Begriff „Demenz“ steht,
der so viel wie „ohne Geist“ bedeutet.
Die Gruppentreffen finden alle zwei
Wochen in Wien und in Klosterneuburg
statt. Die jeweils zwei Stunden für maxi-
mal zwölf Betroffene sind ein geschütz-
ter Raum, in dem das Leben in seiner
Vielfalt Platz hat. Die wichtigsten Spiel-
regeln der Gruppensitzung stehen
Schwarz auf Weiß auf einem Flipchart,
damit sie nicht vergessen werden können:
„Alles, was in der Gruppe besprochen
wird, bleibt in der Gruppe“, lautet
eine davon. Eine andere besagt: „Du
darfst unterbrechen.“ Mit anderen Worten:
Sag, was du zu sagen hast, bevor du
es vergisst. Bevor du dich vergisst.
Genau das tun die Betroffenen. Sie
sprechen darüber, wie sie ihr Leben mit
der Diagnose Demenz bewältigen, frei
nach dem Motto eines Teilnehmers: „Ich
bin krank, aber nicht deppert.“
Beatrix Gulyn (rechts) lebt seit 14 Jahren
mit der Diagnose Demenz. Gemeinsam
mit der Sozialarbeiterin Reingard Lange
gründete sie „Promenz“.
„Menschen mit
Demenz sind die
besten Lehrer,
wenn es um ein
gelingendes
Leben mit der
Krankheit geht.“
Foto: Uli Reinhardt
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