DIE AKTIVEN (4)
SIEGBERT RUDOLPH Was tun Führungskräfte, wenn sie
in Rente gehen? Golfen? Kochen lernen? Siegbert
Rudolph machte es anders. Und fand im Ruhestand die
Rolle seines Lebens.
iegbert Rudolph hatte einmal das große Sagen. 40
Jahre war der Betriebswirt bei einem IT-Dienstleister
für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und
Rechtsanwälte angestellt, zuletzt als stellvertretender
Vorstandsvorsitzender. Die rund 1800 Mitarbeiter in seinem
Zuständigkeitsbereich taten, was er ihnen sagte. Manchmal
taten sie es auch nicht. Dann konnte er streng werden.
„Geduld ist nicht meine Stärke“, sagt er und lacht, wenn er
sich erinnert, wie er war: ein Manager mit hohen Ansprüchen.
Seine ehemaligen Mitarbeiter fragen sich manchmal verwundert,
wie’s sein kann, dass er heute so viel Geduld hat
und stundenlang mit Dreikäsehochs Lesen und Schreiben übt.
Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe. Stammelnd erst und
tastend, langsam flüssiger werdend, irgendwann verständlich.
Bis ein Kind, das die Gesellschaft unter dem Label „Lese-Rechtschreib
Störung“ abgeschrieben hätte, doch noch den Zugang
zur geschriebenen Sprache findet. Und damit eine Zukunft hat.
Wenn also ein ehemaliger Mitarbeiter fragt, woher Rudolph
die Geduld hat, antwortet der 75-Jährige: „Weil so ein Kind ein
kleines Würschtle ist. Ihr wart ausgebildete Kaufleute und Betriebswirte.
Von euch konnte ich mehr verlangen.“
Was tun Führungskräfte, wenn sie in Rente gehen? Macht
abzugeben ist nicht leicht. Nicht jeder pensionierte Manager
bekommt das hin. Auch für Siegbert Rudolph war an seinem
65. Geburtstag nicht klar, dass er Schülern das Lesen beibringen
würde. Sein ursprünglicher Plan: Kochen lernen. „Nicht in
meiner Küche!“, meinte die Gattin. Und Rudolph suchte sich
eine andere Beschäftigung.
Er stieg bei den „Aktivsenioren Bayern“ ein, die unter
anderem Existenzgründer beraten. Lernte bei einem Bewerbungstraining
die 14 Jahre alte Nadine kennen und merkte,
dass sie nicht lesen konnte. „Sie ist Legasthenikerin“, erklärte
die zuständige Lehrerin. „Legastheniker können nicht lesen.“
Das wollte der Ex-Manager nicht glauben. „Wenn mir jemand
sagt, dass etwas nicht geht, ist mein Interesse geweckt. Dass
jemand von der Schule geht, ohne lesen zu können – das geht
gar nicht.“ So fing es an. Es wurde die Aufgabe seines Lebens.
Rudolph begann, mit Nadine zu üben. Für erste Versuche
legte er ihr die Lokalzeitung hin – keine gute Idee, wie sich
herausstellte. Das Mädchen taumelte durch die Buchstabenseiten.
Zu viel Text schüchtert ein. „Ich hab’ es vereinfacht.“ Er
entwickelte Übungen und setzte sie in Powerpoint um. Lernen
durch Anklicken: Satz für Satz, Wort für Wort, Silbe für Silbe.
So langsam, dass Zeit zum Mitdenken und Mitsprechen bleibt.
Nach 180 Stunden konnte Nadine aus den 26 Buchstaben eine
Welt herauslesen. Sie bekam einen Ausbildungsplatz und ist
heute Mechatronikerin. Zum Dank lädt sie ihren Mentor und
seine Frau nach jeder Gehaltserhöhung zum Essen ein.
Nach dem ersten Erfolg hatte er Feuer gefangen und stellte
sein Konzept an Schulen vor, besuchte Legasthenie-Kongresse,
ackerte sich durch Fachliteratur und entdeckte sein Reservoir
an Geduld: „Wenn ich einen Schüler übernehme, bin ich nicht
frustriert, wenn er in der vierten Stunde immer noch genauso
miserabel liest wie am Anfang. Ich weiß, dass wir es schaffen.“
Seit 2010 hat er 100 Kinder zur Sprache gebracht und 1.000
Übungen entwickelt, allesamt gratis auf seiner Homepage „Lesekoch“
zu finden. Andere schließen sich an: In der Region Mittelfranken
arbeiten rund 40 Lesepaten mit seinen Übungen,
im Netz sind fast 500 Mitstreiter registriert. 2018 wurde er mit
dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Doch wer glaubt, einen wie ihn mit einer Auszeichnung
abspeisen zu können, hat sich verkalkuliert. Dafür war Siegbert
Rudolph viel zu lange Alphatier. Die Rolle des freundlichen
älteren Herrn, der Nachhilfe gibt, füllt ihn nicht aus. Aus
dem Quereinsteiger ist ein Kritiker der Bildungspolitik geworden.
Seine Argumente trägt er mittlerweile auch vor Fachpublikum
vor. Das System ändern: Das würde Siegbert Rudolph am
liebsten. Wer einmal das große Sagen hatte, mag sich nicht mit
weniger bescheiden.
Geduld musste er erst lernen. Siegbert Rudolph übt mit Harun
Lesen an der Pestalozzi-Schule in Oberasbach.
S
Fotos: ULI REINHARDT Text: ANDREA MERTES
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