DIE AKTIVEN (2)
GERLINDE SICHERT Selbst schon 68 Jahre alt, tritt sie
ehrenamtlich für den Verein „Radeln ohne Alter“ in
die Pedale und fährt Bewohner von Seniorenheimen in
einer Rikscha spazieren. Fotos: ULI REINHARDT Text: ANDREA MERTES
er erste Eindruck treibt mit Gerlinde Sichert sein
Spiel: Er sortiert die 68-Jährige in eine Schublade
mit der Aufschrift „alt“. Der erste Eindruck also:
Das ehemals blonde Haar ist ergraut, T-Shirt und
Strickjacke harmonieren in unaufdringlichem Pastell, die
Schulterblätter krümmen sich zum Ansatz eines Buckels. Das
Lächeln ist zurückhaltend – die Mimik eines Menschen, der es
nicht mehr gewohnt ist, im Mittelpunkt zu stehen. „Ich bin Pilotin“,
erklärt Gerlinde Sichert aus Königsbrunn bei Augsburg
bei der Begrüßung – ein Berufsbild, das so gar nicht zum ersten
Eindruck passen will. Ist die Frau nicht viel mehr Rentnerin?
Für weitere Erklärungen ist erst mal keine Zeit. Schließlich
warten ihre Passagiere.
Zwei Bewohnerinnen eines Seniorenzentrums sind es heute,
für die sie zur Pilotin wird. Nur dass sie ihre Passagiere nicht
mit einem Flugzeug, sondern mit dem Lastenfahrrad transportiert.
Das E-Bike ist vom Verein „Radeln ohne Alter“ finanziert,
dessen ehrenamtliche Mitglieder mit Bewohnern von Alten-
und Pflegeheimen Ausflüge organisieren. Pilot und Passagier
sind Begriffe, die der Verein geprägt hat. Oft sind es eher jüngere
Menschen, die bei solchen Ausfahrten in die Pedale treten.
In Königsbrunn verkehrt sich dieses Bild. Eine der Passagierinnen
ist drei Jahre jünger als ihre Pilotin. Seit einem
Schlaganfall kann sie nicht mehr richtig gehen. Ein Schicksalsschlag,
sagt sie. Es kann jeden jederzeit erwischen. Gerlinde
Sichert weiß das. Sie hat selbst erlebt, wie das Leben von jetzt
auf gleich die Richtung ändert. „Mit Mitte 30 habe ich gedacht,
mein Mann und ich werden miteinander alt. Wir haben viel gearbeitet,
waren fleißig, haben für unsere Zukunft und die unserer
beiden Töchter geplant.“ Doch eines Tages kam sie nach
Hause und fand ihren Mann leblos im Bad. Plötzlicher Herztod
schrieb der Arzt in den Totenschein. In der Rushhour des Lebens
musste Gerlinde Sichert eine Vollbremsung verkraften. Es
hat gedauert, bis sie wieder Fahrt aufnahm, mit viel Entschlossenheit
und Disziplin: „Es war eine schwierige Zeit.“
Vielleicht hat sie aus dieser Erfahrung heraus vor Jahren
beschlossen, nichts aufzuschieben. Schon mit 60 hat die ehemalige
Hauswirtschafterin ihre Rente beantragt. Hat finanzielle
Vorteile zugunsten von mehr frei verfügbarer Lebenszeit
sausen lassen. Und beschlossen, damit etwas Sinnvolles auf die
Beine zu stellen. „Solange ich noch fit bin“, sagt sie, schwingt
sich auf die Lastenrikscha und tritt in die Pedale. Das Lächeln
beider Frauen vertieft sich. Auf zu einem Ausflug an den See!
Mit zehn Stundenkilometern geht es durch Buchenalleen,
an Reihenhäusern vorbei und durch eine Parklandschaft. Pilotin
und Passagierin atmen Sommerluft, der Wind spielt mit
ihren Haaren. Es geht leicht bergan, der Elektromotor schaltet
zu. „Ohne ihn fühlt es sich an, als wenn man einen Sack Kartoffeln
hinter sich herzieht“, sagt Sichert. Es klingt nicht so,
als würde sie all das besonders anstrengen: Stimmt, erwidert
sie, das tut es wirklich nicht. Schließlich macht sie regelmäßig
Nordic Walking und trainiert im Fitness-Studio. Stark macht sie
auch die Arbeit in ihrem Schrebergarten. „Das ist mir wichtig.
Ich will so lange wie möglich selbstständig bleiben.“
Wer auf sich selbst achtet und für sich sorgt, hat Kapazitäten,
um sich um andere zu kümmern: Zwei Mal in der Woche
hilft sie in der Caféteria eines Altenheims, dazu kommen mehrmals
in der Woche Rikscha-Fahrten. Bei denen es eben sehr
oft ältere Menschen sind, die als Piloten in den Sattel steigen,
erklärt Sichert: „Die Jungen stehen doch mitten im Berufsleben
und haben keine Zeit.“ Das Ehrenamt braucht Menschen wie
sie. Menschen mit Zeit und einer Vision. Mit grauen Haaren
vielleicht. Aber nicht alt.
„Ich bin Pilotin“, sagt Gerlinde Sichert scherzhaft, bevor sie
dann mit ihren Passagieren auf Tour geht.
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