„Liebe und ein Leben in Bewegung“
Michel Poulain erforscht die
Blauen Zonen auch mit 72 Jahren
noch. Was sie ihn gelehrt haben,
verrät er im Telefon-Interview.
Gespräch: JAN RÜBEL
Professor Poulain, Sie begannen
Ihre wissenschaftliche Karriere
als Astrophysiker. Warum hörten
Sie damit auf?
Nach meinem Diplom reiste ich nach
Skandinavien, um das Phänomen des
Nordlichts zu erforschen. Eine Aurora
borealis ist das schönste Licht, das man
sich vorstellen kann. Danach beschäftigte
ich mich mit Satelliten, aber das
wurde mir alles zu technisch und menschenfern,
deshalb wechselte ich das
Fach und wurde Lehrer für Mathematik,
Chemie und Physik ...
... und danach ausgerechnet
Demograf. Warum das denn?
Meine Frau studierte damals Geschichte,
und ich riet ihr, eine demografisch-
historische Arbeit über mein Heimatdorf
zu schreiben. Wir gingen das gemeinsam
an – so begann meine Begeisterung
für Demografie. Ich studierte also noch
einmal, promovierte und gehörte
schließ lich zu einer internationalen
Forschergruppe, die sich mit dem Alter
von Menschen beschäftigte. Im Oktober
1999 hatten wir ein Treffen in Montpellier,
bei dem ein Arzt aus Sardinien
berichtete, dass es dort genauso viele
männliche wie weibliche Hundertjährige
gebe. Wir waren skeptisch und
beschlossen bereits in der Kaffeepause,
dass ich nach Sardinien reisen und
diesen Fall untersuchen sollte.
Sie alle erwarteten offenbar, dass
sich der Arzt geirrt hätte?
So war es, und dann fand ich bei meiner
Reise durch 40 sardische Dörfer, dass
es ungewöhnlich viele Hundertjährige
gab, männliche wie weibliche. Das waren
keine Zufälle, sondern in gewissen
Dörfern echte Gruppen. Ich markierte
sie auf meiner Karte mit einem blauen
Stift; das war der Beginn der „blauen
Zonen“.
Wie reagierten Ihre Kollegen?
Sie waren nicht überzeugt. Sie schickten
sogar hinter meinem Rücken eine
Kontrollgruppe nach Sardinien, sie
sollte meine Ergebnisse überprüfen.
Worauf gründete sich die Skepsis
Ihrer Kollegen?
Überall auf der Erde gibt es sechs bis
sieben Mal so viele weibliche wie
männliche Hundertjährige, und viele
Studien erklären, warum Frauen länger
leben als Männer.
Die nächste Entdeckung war dann
wohl, dass es nicht nur auf
Sardinien solche Blauen Zonen gibt?
Richtig, auf einem Kongress in Vancouver
traf ich einen Forscher aus Okinawa,
der mich einlud, sein Land zu besuchen.
Dort stieß ich auch auf Regionen, in
denen Frauen und Männer ungewöhnlich
lange leben. Und ich hörte von ähnlichen
Orten in Costa Rica sowie Griechenland.
Von da an waren Blaue Zonen
ein anerkanntes Wissenschaftsthema.
Verfolgten Sie auch falsche Spuren?
Ich forschte auch in Georgien und
Ecuador, aber die Daten, die ich erhob,
qualifizierten die Orte nicht für eine
Blaue Zone. Gerade forsche in auf Kuba,
aber es braucht Zeit.
Welches große Geheimnis für
ein langes Leben haben Sie in den
Blauen Zonen entdeckt?
Einfache menschliche Bedingungen:
Liebe und ein Leben in Bewegung, enge
Beziehungen zu Familie und Freunden.
Könnten sich diese Bedingungen
nicht auf jede Gesellschaft übertragen
lassen?
Ja, wir sollten zum Beispiel darüber
nachdenken, wie wir unsere Alten behandeln.
Wir schmeißen sie aus ihren
Häusern und schicken sie in Pflegeheime
– eine unsinnige Isolierung. Unser
Konsum steigt und mit ihm Umweltverschmutzung
und Lärm. Es droht ein
Kollaps, wenn wir uns nicht in Verzicht
üben. Zum Glück steigt in vielen
europäischen Ländern das Interesse an
Bedingungen der Blauen Zonen – leider
nicht so sehr in Deutschland. Ich weiß
nicht warum.
Hat das Wissen über Blaue Zonen
Ihr Leben verändert?
Ja, ich treibe noch Sport, esse kein rotes
Fleisch, esse überhaupt weniger. Treffe
ich jemanden zum ersten Mal, versuche
ich, ihm neugierig und offen zu begegnen
– und es im Umgang mit Freunden
und Familie auch zu bleiben.
„Enge Beziehungen zu Familie
und Freunden.“ Der Demograf
Michel Poulain achtet selbst
auf ein gesundes Leben.
Foto: Geert Vanden Wijngaert
26 DIE EWIGEN