14 DIE EWIGEN
Bevor Nachmittagsregen den Tropenwald einhüllt,
reitet Pachito los. Von einem Baum
schmeißt ein Affe Reste einer Mango herab.
Zwei Häuser weiter lässt Pachito den Hengst
kreisen und die Vorderbeine in die Höhe recken,
zum Staunen seiner acht Kinder samt ihren
Kindern – großer Empfang zu seinem 102.
Geburtstag. Der Priester eilt heran, er ist auch
als Musiker eingeladen. „Was soll ich dir spielen,
Pachito?“, fragt er. Pachito überlegt nicht
lange. „Sing mir ‚Ich werde mich nicht mehr
verlieben‘.“ Alle lachen. Denn Pachito, seit vier
Jahren verwitwet, gilt als Schwerenöter. Fragt
ihn eine junge Frau, wie er so alt werden konnte,
antwortet er ihr: Schlaf mit mir, dann wirst
du so alt wie ich.
Eigentlich ist Pachito hier kein Phänomen,
unweit des Städtchens Quebrada Honda
im Nordosten Nicoyas – einer Halbinsel Costa
Ricas. In dieser Region werden viele Menschen
außergewöhnlich alt: mehr als 90 und gar 100
Jahre. Demografen bezeichnen Nicoya, als
„Blaue Zone“. Weitere Blaue Zonen gibt es in
Italien, Griechenland und Japan.
Ihren Namen erhielten sie, als der belgische
Demograf Michel Poulain und der Biomediziner
Gianni Pes von der Universität Sassari im Jahr
2000 mehrere sardische Dörfer mit blauen Kreisen
auf ihrer Landkarte markierten. Pes hatte
auf einem Demografiekongress in Montpellier
von vielen alten Frauen und Männern berichtet.
Die Demografen glaubten ihm nicht und
schickten Poulain, um ihn zu widerlegen. Die
beiden studierten Geburtsregister, inspizierten
Grabsteine und fanden die erste Blaue Zone.
Nachdem sie ihre Ergebnisse veröffentlicht
hatten, wurde Poulain nach Okinawa eingeladen,
wo Ärzte vor Ort Ähnliches vermuteten.
Seitdem sind Demografen und Bioinformatiker,
Biomediziner und Ernährungswissenschaftler
dem Geheimnis dieser Alterung auf der Spur.
Die Blauen Zonen sind Rätsel und Hoffnung
zugleich. Die Menschen von Nicoya zum Beispiel
haben gute Blutwerte und verzeichnen
eine niedrige Krebsrate. Aber worin liegt das
Geheimnis ihres langen Lebens? Können wir
Normalsterblichen etwas von ihnen lernen?
Reporter und Fotografen sind für MUT nach
Costa Rica, Sardinien und Japan gereist und
haben mit Superalten und ihren Angehörigen
geredet, auch mit Forschern, die sich mit „blue
zones“ beschäftigen. Das Geheimnis ist eher ein
Puzzle, zu dem nur noch wenige Teile fehlen.
Pachito schwenkt seinen Krabbencocktail.
„Wenn ich kein Fleisch gegessen und mir keine
Drinks genehmigt hätte, wäre ich schon lange
tot!“ Diäten, Intervallfasten, Power-Yoga – gab
es in seinem Leben nicht. Er saß mit vier zum
ersten Mal auf einem Pferd und arbeitete ab seinem
zehnten Lebensjahr auf der Finca seines
Vaters. Nach dessen Tod übernahm er den kleinen
Hof. Pachito lässt sich einen Guaro eingießen,
einen Zuckerrohrlikör. „Ich bin nie allein“,
sagt er. Immer schaue jemand aus der Familie
vorbei, man lebe gemeinsam. „Wir reden viel,
hören einander zu – und wir essen gut.“ Reis, Bohnen,
Fleisch. Früher sei das Essen reiner gewe sen,
sagt er und nippt an seinem Guaro. „Wir ernteten
selbst. Heute essen die Leute Waren aus dem
Supermarkt, aber die Orangen von dort sind
bitter. Wir brauchten damals keinen Dünger!“
Wer den Alten von Nicoya zuhört, erfährt,
wie einfach ihr Leben verlief. Von steter Bewegung,
kontinuierlicher Arbeit, einfachem Essen
auf nicht zu großen Tellern – und von kleinen
Nicoya, Costa Rica
Die Menschen in dieser Region
haben gute Blutwerte und
eine niedrige Krebsrate. Sie
führen ein einfaches Leben.
Viel Bewegung.