DIE EWIGEN
fünf Jahre alt, misst seine Kräfte und rangelt mit
dem Uropa, zupft mit ihm an den drei Saiten der
Sanshin, einer Art Gitarre, die bespannt ist mit
Schlangenhaut.
An diesem Abend findet die jährliche Regatta
der Drachenboote, Harai, statt. Morio Taira hat
die Ehre, den Wettkampf zu eröffnen. Er steht
am Strand, eine rote Flagge in der Hand. Rüstige
90-Jährige sitzen auf der Mauer am Ozean, lassen
die Beine baumeln, zwei alte Damen schenken
Getränke aus, verteilen kleine Bananen an die
Teilnehmer. Sie danken mit ihrem Fest den Göttern
des Meeres, aus dessen Fülle sie ihr Leben
lang schöpfen. Wer am Strand entlangspaziert,
trifft nicht nur auf Fischer und Taucher. Alte Damen,
auf dem steinigen Boden sitzend, graben
zwischen Steinen nach Muscheln. Mit Forken
durchstöbern sie den Meeresgrund auf der Suche
nach Schnecken.
Ogimi war seit jeher ein armes Dorf von Fischern
und Bauern. Ihr langes Leben zeigt, dass
ein wenig Verzicht offenbar eher jung hält als
ein Dasein im Überfluss. Ein Symbol ihrer bescheidenen
Ansprüche ist ein schlichtes Gemüse.
Im Gemüsebeet bauen sie die Bittergurke
Goya an. Das warzig-picklige Gewächs ist Wahrzeichen
der Insel geworden – und kommt häufig
auf den Tisch, wobei die Alten stets zwei Dinge
befolgen. Nummer eins: Langsam kochen, sich
Zeit nehmen. Nummer zwei: „Hara hachi bu!“
Ritual am Morgen:
Aufrecht im Sessel
sitzend liest Haru
Miyagi die Zeitung.
Dazu trinkt sie eine
Tasse grünen Tee.
Die Shisa-Drachen
stehen in Okinawa
fast vor jedem
Haus. Sie gelten
als Beschützer
und sollen Unheil
fernhalten.
Nie zu viel essen, aufhören, sobald der Magen zu
80 Prozent gefüllt ist.
Eine Art Budenzauber wird allerdings auch
mit den Blauen Zonen getrieben. „Langlebigkeitsaktivstoffe
aus der Ernährung der Blue Zones“
bietet ein Hersteller in Fläschchen an – grüner
Kaffee aus Nicoya, Oliven aus Sardinien und
Mastix-Harz aus Ikaria. Das Zeug wird nicht geschluckt,
sondern eingerieben. „Mit jedem Tag
sieht die Haut jünger, fester und gesünder aus“,
wirbt Chanel für sein „Blue Serum“. Abgesehen
davon, dass die Alten in den Blauen Zonen von
tiefen Falten gezeichnet sind, trinken sie ihren
grünen Kaffee und essen ihre Oliven. Nahrung
ist nur ein Punkt von vielen.
Die Blauen Zonen haben gemeinsam, dass
die Alten dort in der Mitte der Gesellschaft bleiben,
in den Familien. Doch letztlich sind die
Blauen Zonen verlorene Welten. Die jungen Generationen
übernehmen nicht mehr die Lebensgewohnheiten
der Alten. In Sardinien streicht
man sich zum Frühstück gern mal Nutella aufs
Brioche statt in einen Pecorinokäse zu beißen
– und in Okinawa scheinen die traditionellen
Gerichte den Wettbewerb mit westlichem Junkfood
zu verlieren.
Im Endergebnis werden Menschen in Blauen
Zonen nicht mehr deutlich älter werden als
anderswo. Geht ihr Zauber verloren? „Nein,
wir alle können viel von den Blauen Zonen lernen“,
gibt sich ihr Entdecker Michel Poulain
überzeugt. „Wir müssen in unsere alternde Gesellschaft
den Geist der Blauen Zonen und ihr
Geheimnis des längeren und gesünderen Lebens
aufnehmen.“ Poulain, fasziniert von den Lebensgewohnheiten
in den Blauen Zonen, hat bereits
Kommunen in den Niederlanden und in Belgien
überzeugt. Dort orientieren sich Verwaltungen
an Poulains sieben Prinzipien (siehe Seite 25):
Lokale Gesundheitszentren werden gegründet,
in denen Einwohner sich nicht wie im Krankenhaus
fühlen. Autofreie Zonen motivieren zu eigener
Bewegung. Mehr öffentliche Gärten schaffen
grüne Lungen, in denen Obst und Gemüse
angebaut wird – damit die Bürger dies nachahmen.
Für Pensionäre werden Möglichkeiten geschaffen,
in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben,
über Modelle des betreuten Wohnens und
über Mehrgenerationenhäuser. Das Ziel dieser
Kommunen: längeres und gesundes Leben für
ihre Einwohner. Und Ivo Pirisi hat die Webseite
„Tasting Sardinia“ entworfen, führt Touristen
durch Sardinien, bringt sie in die alte Welt der
Ess- und Trinkgewohnheiten, der Lebenstraditionen.
„Es kommen vor allem Amerikaner“, fasst
er zusammen. „Vielleicht haben die auch den
größten Lernbedarf.“
24