Meine eigene Erfahrung spricht
dagegen. In der Begegnung mit dem Tod
kann ich mich fragen: Verbringe ich
meine Zeit mit Dingen, die mir wirklich
wichtig sind? Trägt meine Existenz
dazu bei, das Leben anderer ein bisschen
besser zu machen? Wenn ich das
bejahen kann, ist das ein freudvolles Ja
zum Leben.
Stimmt, todtraurig wirken Sie nicht
gerade. Dabei sehen Sie doch täglich
viel Leid. Wie gehen Sie damit um?
Ich lasse mich berühren, aber ich steige
nicht ein ins Elend anderer. Das ist für
mich die Gratwanderung zwischen
Mitfühlen und Mitleiden. Außerdem
habe ich in meiner ärztlichen Laufbahn
niemals zuvor soviel Dankbarkeit von
Patienten bekommen wie jetzt. Diese
Wertschätzung freut und bestärkt mich
immer wieder.
Man sagt, vor dem Tod sind
alle gleich. Sterben auch alle auf
gleiche Weise?
Nein, die Unterschiede sind enorm.
Und für mich oft überraschend. Jemand,
den ich bei Gesprächen sehr reflektiert
erlebt habe, fing plötzlich wider besseres
Wissen an, gegen das Unvermeidliche
zu kämpfen. Andere, denen ich es kaum
zugetraut hätte, finden eine innere
Ruhe, ordnen ihre Dinge und gehen
mit großer Gelassenheit in dieses letzte
große Abenteuer.
Sterben Gläubige leichter?
Das ist sehr unterschiedlich. Einige
freuen sich regelrecht aufs Jenseits und
darauf, dort mit Jesus vereint zu sein.
Andere entwickeln ungeahnte Ängste
und wehren sich verzweifelt. Die
Möglichkeit, sich dem Kontrollverlust
hinzugeben und demütig das eigene
Ende zu akzeptieren, scheint mir auch
ein Akt der Gnade zu sein.
Was raten Sie Freunden und
Angehörigen, die einen Menschen
auf den letzten Metern begleiten?
Das klingt jetzt vielleicht überraschend:
Ich empfehle, sich auch um sich
selbst zu kümmern. Finden Sie eine
gute Balance zwischen der Fürsorge für
den Patienten und der Selbstfürsorge.
Schaffen Sie sich Inseln im Alltag, wo
Sie Freude empfinden können, denn sie
wissen nicht, wie lange die Pflege gehen
wird. Wichtig ist auch, die Hilfe von
anderen gut zu organisieren. Spontane
Besuche belasten oft nur. Besser ist es,
Sitzwachen zu organisieren, das heißt,
jemand verbringt einige Stunden am
Krankenbett. Diese Präsenz sollte möglichst
lückenlos sein. Ganz wichtig:
Seien Sie bereit, Verantwortung an
andere abzugeben. Zwar können Fehler
passieren, aber die können Ihnen auch
selbst unterlaufen. Seien Sie bereit,
Kontrolle abzugeben!
Gibt es etwas, was uns der Tod
fürs Leben lehren kann?
Aus meiner Sicht rät er den Menschen,
so zu leben, dass sie möglichst wenig
Grund zur Reue haben, wie es der
amerikanische Psychiater Irvin Yalom
ausdrückte. Damit meine ich vor allem,
nichts Wichtiges zu verschieben. Denn
das birgt die Gefahr, eines Tages sagen
zu müssen: Hätte ich doch dieses oder
jenes noch gemacht. Mir sagte mal ein
Mann, „wenn ich gewusst hätte, dass es
so schnell gehen kann, dann hätte ich
mehr Zeit mit meinen Kindern verbracht“.
Jemanden zu begleiten, der
mit dieser Verzweiflung stirbt, finde ich
besonders belastend.
Eines Ihrer Projekte ist der „Lebensspiegel“.
Unter therapeutischer
Begleitung schreiben alte Menschen
und unheilbar Kranke eine Art Bilanz
ihres Lebens. Was soll das bringen?
Wir haben das Konzept von dem Psychiater
Harvey Chochinov übernommen.
In der letzten Phase sind Menschen
oft bedrückt, konzentrieren sich nur auf
die jetzige schwierige Situation. Wenn
sie, angeleitet von unseren erfahrenen
Seelsorgern und Psychologen, den
Blick weiten und auf schöne, intensive,
erfüllte Stationen ihres Lebens blicken,
hat das einen sehr heilsamen Effekt.
Der Text ist für Freunde und Angehörige
bestimmt. Damit entsprechen wir dem
Wunsch, ihren Liebsten etwas Bleibendes
zu hinterlassen. Das tröstet.
Wird das Angebot angenommen?
Wir bieten den Lebensspiegel allen
Patienten an. Jeder Fünfzehnte nimmt
das Angebot an.
Beim Rückblick tauchen doch sicher
nicht nur gute Momente auf.
Aber auf die konzentrieren wir uns. Wir
fragen: Auf was sind Sie stolz in Ihrem
Leben? Was waren besonders freudvolle,
intensive Situationen? Es geht nicht
um eine pseudo-objektive Bilanz, sondern
um die Würdigung dessen, was man
alles für sich erreicht hat. Ich erinnere
mich an eine Frau, 42, unheilbarer
Brustkrebs. Sie war Friseurin gewesen,
hatte ein einfaches Leben geführt.
Sie lud mich zu ihrem letzten Geburtstag
ein. Freunde und Verwandte feierten
mit. Ihr Text des „Lebensspiegels“ lag
auf dem Tisch, und sie ermunterte
mich, ihn zu lesen. Der letzte Satz hat
mich fast umgehauen. Er lautete:
„Ich bin ja so ein Glückspilz.“
In Deutschland gibt es mehr als
300 Teams, die sich auf ambulante
Palliativversorgung spezialisiert
haben, Tendenz steigend. Das System
von „Palliative Care“ in Wetzikon
bei Zürich, das die lückenlose Betreuung
zwischen Krankenhaus und
Zuhause gewährleistet, wurde nach
Kenntnis von Dr. Andreas Weber
noch nicht übernommen. Er hat eine
Stiftung gegründet, um „Palliative
Care“ zu fördern.
Mehr Informationen unter
www.andreasweberstiftung.ch
„Das Sterben ist sehr unterschiedlich.
Einige freuen sich aufs Jenseits.
Die anderen wehren sich verzweifelt.“
32 INTERVIEW