DIE AKTIVEN (3)
ANNE VITZTHUM ist eigentlich längst im Rentenalter.
Aber mit großem Elan führt die Ärztin immer noch
ihre Praxis in Weinstadt: 50 Stunden ist sie jede Woche
für ihre Patienten da.
eiläufig erwähnt sie es. Als hätte jede andere Frau,
jeder andere Mann an ihrer Stelle genauso gehandelt.
Vor ihrer Arztpraxis war es, an einem Nachmittag.
Motoren dröhnten, Reifen quietschten. Als
Anne Vitzthum aus dem Fenster blickt, bestätigt sich ihre Vermutung:
Junge Männer liefern sich wieder ein Autorennen. Die
Ärztin stürmt die Treppen zur Tiefgarage hinab, springt in ihren
Wagen, sie kennt die Stelle, an der das Rennen startet, findet die
Verkehrs-Rowdies, steigt aus und stellt sich vor sie: eine zierliche
Dame, die gerade mal 50 Kilo auf die Waage bringt, gegenüber
einem halben Dutzend muskelbepackter Kerle.
„Ich will keinen von euch vor meiner Praxis von der Straße
kratzen“, sagt Anne Vitzthum. „Und ich will auch keinen meiner
Patienten dort auflesen. Wenn ihr jemanden umnietet, ist
das Mord. Ein weiteres Rennen – und ich zeige euch an. Eure
Autonummern habe ich bereits notiert.“ Die jungen Männer
wollen diskutieren. Sie nicht. So ist sie, die 70-jährige Fachärztin
für Allgemeinmedizin und Allergologie aus Weinstadt bei
Stuttgart: energisch, direkt und mutig.
Mut macht sie auch denen, die ihn zwischendurch mal zu
verlieren drohen. Margarete G. beispielsweise. Die 85-Jährige
ist schwer gestürzt. Anne Vitzthums erster Hausbesuch gilt ihr
an diesem Dienstagnachmittag. Wundfäden sind zu ziehen.
Aber die Patientin ist nicht nur körperlich entkräftet, sondern
auch seelisch angeschlagen.
„Kommen Sie, wir spielen jetzt Klavier“, sagt die Ärztin.
Margarete G.s Hände finden an Vitzthums Hüften Halt. In zittrigen,
kleinen Schritten folgt sie der rückwärtsgehenden Ärztin
zum Klavier, erst widerstrebend, dann willig, und schlägt erste
Töne an. Das Instrument ist verstimmt, eine Melodie kaum zu
erkennen. Aber die alte Frau lächelt.
Dass Anne Vitzthum längst selbst das Rentenalter erreicht
hat, ist ihr nicht anzusehen. Mit Ponyfrisur, luftig-leichtem
Rock und himmelblauem Halstuch wirkt sie jugendlich. Auf
geht’s, nach vorne blicken, positiv denken! Das ist auch in der
Sprechstunde ihre Botschaft. Zweifel merkt man ihr jedenfalls
nicht an. Als Patient Simon H. die Stimme senkt und seine
UV-Überempfindlichkeit mit Stress daheim erklärt, wiegelt die
Ärztin ab. „Wenn Sie mehrere Kinder haben, steht immer eines
quer im Stall“, sagt sie und kommt später zurück zu den Hausbesuchen.
„Die meisten alten Menschen sind einsam, würden
mich gern ständig bei ihnen daheim sehen“, erzählt sie. „Aber
auch, wenn ich eine Fünfzigstundenwoche habe und nachts
nur sechs Stunden schlafe, das kann ich nicht leisten.“
Zumal sie sich auch dem Allgemeinwohl verpflichtet sieht. In
Vorstandsgremien der Landesärztekammer und Kassenärztlichen
Vereinigung Baden-Württemberg kämpft sie dafür, dass
niedergelassene Ärzte bessere Rahmenbedingungen vorfinden.
Wer seine Praxis aufgebe, finde oft keinen Nachfolger, erzählt
sie. Die Patienten hätten das Nachsehen.
Auch stellt sie sich dem Trend entgegen, die Lücke mit Versorgungszentren
zu schließen, in denen eine Vielzahl von Ärzten
Dienst tun und der Patient immer wieder an einen anderen
Hausarzt gerät. Das Versorgungsplus sei teuer erkauft. Das
wichtige Vertrauensverhältnis zum Patienten nehme Schaden.
„Guten Morgen, die Sonne scheint, es lohnt sich aufzustehen“,
so hat sie ihre zwei Kinder einst geweckt. Lange ist das
her. Vierfache Großmutter ist sie inzwischen. Womöglich wird
sie irgendwann Urgroßmutter. Und dann? „Angst vor Alter und
Einsamkeit habe ich nicht“, stellt sie klar.
Seit 30 Jahren lebt die gebürtige Kölnerin mit ihrem Mann
nun schon in Weinstadt. Es fällt schwer, sich Vitzthum anderswo
vorzustellen als mitten im Leben, mitten in einem trubeligen
Geben und Nehmen. In ein paar Jahren wird sie die Praxis
vielleicht altershalber aufgeben müssen. Aber der Trubel wird
bleiben. „Ich hole mir ständig irgendwo ein blaues Auge“,
meint sie. Nicht wehleidig sagt sie es, sondern zufrieden.
„Wenn es eines Tages mal zu Ende geht“, fügt sie hinzu, „dann
hoffentlich auf einen Schlag. Herzflimmern oder so etwas.“
„Kommen Sie, wir spielen jetzt Klavier.“ Anne Vitzthum
beim Hausbesuch.
B
Fotos: RAINER KWIOTEK Text: AXEL VEIEL
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