DIE EWIGEN
Die nächste Etappe unserer Reise zu einer blauen
Zone führt zur Inselgruppe Okinawa im Süden
Japans und zu Haru Miyagi, die barfuß über
Reisstrohmatten ihres Häuschens tapst, bis sie
vor einer Nische im Wohnzimmer Halt macht.
Sie verneigt sich vor dem kleinen Hausaltar, der
in die Wand eingelassen ist. Täfelchen mit den
Namen ihrer Ahnen stehen darauf. Haru Miyagi
entzündet wie jeden Morgen Räucherstäbchen:
„Passt auf meine Familie auf und auf mich“,
bittet sie ihre Vorfahren. „Danke für meine
Gesundheit! Danke für mein gutes Leben und
diesen guten Tag.“ Das Ritual gehört für Haru
Miyagi zu einem guten Tag wie Misosuppe und
Lektüre ihrer Zeitung. Sie sitzt aufrecht im Sessel,
der Blick fast andächtig, ihr silbernes Haar
hat sie zurückgekämmt und im Nacken geknotet.
Aus einem Kännchen schenkt sie sich grünen
Tee ein und blättert in der Zeitung. Ihre
Wohnung hat sie geputzt – für die Besucher. Sie
ist froh, dass sie das alleine schafft. Sie ist 101
Jahre alt und lebt noch immer allein.
In Okinawa sind mehr als 900 der 1,3 Millionen
Bewohner 100 und älter. Prozentual gesehen
fünf Mal so viele wie in Deutschland. Im
Küstendorf Ogimi im grünen Norden der Hauptinsel
leben die meisten Superalten. Die Luft ist
feuchtwarm und schmeckt nach Salz. Türkis glitzert
der Pazifik, nur einen kurzen Fußmarsch
von Haru Miyagis Haustür entfernt. Palmen säumen
die Straße, Hibiskus blüht feurig rot. Vor jedem
der kleinen Häuser reißen Löwen aus Keramik
und Stein wie Wachhunde ihre Mäuler auf.
Sie sollen das Böse fernhalten. Stolz schmücken
sich die Bewohner mit einem Titel: „Dorf mit der
höchsten Lebenserwartung Japans.“ Das Sprichwort
der sehr alten Menschen: „Mit 70 bist du
ein Kind, mit 80 ein Jugendlicher und mit 90,
wenn dich deine Ahnen in den Himmel rufen,
bitte sie zu warten, bis du 100 bist. Dann könntest
du drüber nachdenken.“ Sie haben es in
einen Gedenkstein gemeißelt, der neben einem
sanft plätschernden Wasserfall am Ortseingang
errichtet wurde.
Wer mit den Alten von Okinawa spricht,
merkt schnell: Jeder hat sein persönliches
„Ikigai“: einen Grund, am Morgen aufzustehen,
einen Sinn im Leben. Für Haru Miyagi heißt das:
„Einfach leben, immer weitermachen – und gar
nicht so viel darüber nachdenken.“ „Nankurunaisa“
pflegen Haru und ihre Nachbarn zu sagen.
„Alles wird gut.“
Das Ikigai von Morio Taira seien seine Enkel
und Urenkel, sagt der 85-Jährige, nach der Zeitrechnung
Okinawas ein Jungspund. Sein Haar
ist weiß, sein Gesicht nahezu faltenfrei. Täglich
geht er zum Meer, um zu fischen. Mit seinen
Freunden trifft er sich zum Go, einem japanischen
Brettspiel, das ähnlich anspruchsvoll und
variantenreich ist wie Schach.
Wichtigste Bezugspersonen sind die „Moai“,
lebenslange Freunde, Menschen, die sich regelmäßig
treffen. Einige, wie Morio und seine
Freunde, besitzen eine gemeinsame Kasse für
Ausflüge. Yui-maru, so nennen sie ihr „soziales
Geflecht“, den „Geist gegenseitiger Unterstützung“.
Sie altern zusammen.
Ein Wort für Ruhestand gibt es auf Okinawa
nicht. Treffen im Gemeindehaus, Familienzusammenkünfte,
Dorffeste: Der Terminkalender
von Morio Taira ist voll. Er ist Vorsteher der Gemeinschaft
der Alten im Dorf, so etwas wie Chef
der Greise von Ogimi. „Wir werden nicht nur alt,
wir sind dabei auch gesund und glücklich“, betont
er, wenn er auf das Geheimnis seiner fast
ewigen Jugend angesprochen wird. Den ganzen
Tag lächelt er sanft in sich hinein: An diesem
Samstag ist seine Familie zusammengekommen,
vier Generationen versammeln sich um den
Tisch, der sich unter den Speisen biegt. Einmal
im Monat trifft sich die Sippe. Urenkel Ryuku,
Okinawa, Japan
Auf der Inselgruppe sind
mehr als 900 der 1,3 Millionen
Einwohner 100 und älter.
Prozentual gesehen fünf Mal
so viele wie in Deutschland.
Sie altern dort „im Geiste
gegenseitiger Unterstützung“.
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