Donnerstag, 12. September 2019 · Nr. 212 Eine Stadt für alle Mindener Tageblatt 27
Für den Alltag reicht es nicht
Im Rahmen der „AlphaDekade“ bietet das Begegnungszentrum und
Mehrgenerationenhaus E-Werk niederschwellige Kurse für Analphabeten an.
Von Sabine Otterbeck
Minden (mt). Grundbildung und mit
ihr das Erlernen von Schreiben und Lesen
sind in Deutschland Pflicht und
Recht zugleich. Sie eröffnet Lebensperspektiven
und Wege in den Beruf.
Doch trotz der langjährigen Verpflichtung
zum Schulbesuch gibt es laut
Bundesbildungsministerium und
Stiftung Lesen in Deutschland etwa
7,5 Millionen Menschen mit unzureichenden
Lese- und Schreibfähigkeiten.
Sie gelten als funktionale Analphabeten.
An die Verlässlichkeit dieser Zahlen
glaubt Leona Schoppengerd-Brast,
Einrichtungsleitung Begegnung im
Sozialraum der Diakonie Stiftung Salem,
nur eingeschränkt. „Da dieses
Thema bei Betroffenen fast immer
von sehr viel Scham begleitet wird,
ist die Dunkelziffer hoch“, sagt sie.
Nach Schätzungen einer „Level-One-
Studie“ der Universität Hamburg geht
man in OWL von fast 180 000 Menschen
aus. In diese Statistik fallen
deutsche Erwachsene, die in verschiedene
Level des Analphabetismus eingeordnet
bzw. als funktionale Analphabeten
bezeichnet werden.
„Die Defizite durch unzureichendes
Lesen und Schreiben, wie sie für
funktionalen Analphabetismus charakteristisch
sind, zeigen sich oft bei
der Bewältigung normaler, unscheinbarer
Alltagssituationen“, sagt Siegmar
Lindel, Koordinator des Begegnungszentrums
und Mehrgenerationenhauses
im E-Werk der Diakonie
Stiftung Salem. Er erinnert sich beispielhaft
an eine Szene beim offenen
Mittagstisch, zu dem Menschen
unterschiedlichen Alters, verschiedener
Kulturen und sozialer Schichten
zusammenkommen. Eine junge Frau
gibt vor, ihre Brille vergessen zu haben
und daher die Speisekarte nicht
lesen und sich nicht in den Essensplan
eintragen zu können. Sie bittet
um Hilfe – und das nicht zum ersten
Mal. Szenenwechsel. Es ist Zeit für die
Nachmittagszusammenkunft im
Café E-Werk. Ein Gast hat seine Telefonrechnung
mitgebracht, die er
nicht versteht und außerdem aufgrund
schlechter Lichtverhältnisseim
E-Werk nicht entziffern kann. Um die
Situation zu ändern, fordert er einen
Bekannten auf, den mit dem Ortsnamen
Petershagen überschriebenen
Lichtschalter zu betätigen. Doch der
findet den richtigen Knopf nicht.
Wie ist es überhaupt möglich, dass
Betroffene ihr Problem selbst vor Eltern
oder Lehrern bis ins Erwachsenenalter
geheim halten können? „Viele
schaffen so eben noch die Grundschule,
sind jedoch auf der weiterführenden
Schule vom Lehrplan
überfordert. So wechseln sie zurück
auf eine einfachere Schulform, an der
sie mehr Unterstützung erfahren.
Häufig gelingt der Abschluss nicht“,
so Leona Schoppengerd-Brast. Damit
seien die Chancen auf einen guten
Ausbildungsplatz sehr gering. Die
meisten der funktionalen Analphabeten
landen in Hilfsjobs. „Da unsere
heutige Gesellschaft immer mehr
durch Sprache und Schrift geprägt ist,
sämtliche Vorgänge dokumentiert
und automatisiert
werden, lassen sich
Defizite im Schreiben
und Lesen immer
schlechter verstecken“,
so Siegmar Lindel. Vor allem
fordert er dazu auf,
sensibel mit der Thematik
und davon betroffenen Menschen
umzugehen. „Sie können nur
dann ein Stück ihrer Scham verlieren,
wenn sie eine vertrauensvolle
Umgebung erleben, in der sie sich öffnen
und ihre Probleme äußern können“,
ergänzt Lindel. Schoppengerd-
Brast fügt hinzu: „Häufig geht bei uns
der Weg über das Essen.“ Ob beim Mittagsmahl
oder in der Kaffeepause
kommen Menschen einander näher,
herrscht eine freundliche, wenig
angstbesetzte Atmosphäre.
Eines der niederschwelligen Angebote
im E-Werk ist die Initiative „Mach
mit … werd fit“: Jeweils dienstags und
donnerstags von 15.30 bis 17 Uhr kommen
Menschen mit funktionalem Analphabetismus
in lockerer Runde zusammen,
um in Lese-, Schreib und Rechenkenntnissen
gestärkt zu werden.
Als Arbeitsmaterialien dienen
neben Schulbüchern Lückentexte, die
von den Teilnehmern selbstständig
ergänzt werden. „Außerdem
bringen unsere Dozenten
den Teilnehmern
Alltagssituationen nahe,
in denen Rechnungen,
Bons, Verträge und vieles
mehr erarbeitet werden“,
erläutert Lindel.
Das Begegnungszentrum
und Mehrgenerationenhaus im
E-Werk ist eine von 14 Einrichtungen
in NRW, die im Rahmen der „Alpha-
Dekade“ durch das Bundesbildungsministerium
und das Bundesfamilienministerium
gefördert wird. Nach
neuen Lernorten für Alphabetisierung
werde nach Auskunft der Ministerien
gesucht, weil die klassischen
Die drei Formen des
Analphabetismus
■ Primärer Analphabetismus
liegt vor, wenn eine Person nie
Lese- und Schreibkenntnisse
erworben hat. Etwa die Hälfte
der insgesamt 750 Millionen
Menschen, die weltweit nicht
lesen und schreiben können,
leben in Südostasien und 27
Prozent in Afrika südlich der
Sahara. Zu diesen 750 Millionen
Erwachsenen zählt die
UNESCO alle Menschen ab 15
Jahren, die überhaupt nicht lesen
und schreiben können. Die
meisten von ihnen haben nie
eine Schule besucht. Zwei Drittel
der Betroffenen sind Frauen.
Durch die zunehmenden
Flüchtlingszahlen gibt es auch
in Deutschland mehr Menschen
mit primärem Analphabetismus.
■ Von sekundärem Analphabetismus
spricht man, wenn Menschen
das einmal gelernte Lesen
und Schreiben etwa durch
mangelnde Anwendung ihrer
Fähigkeiten und Fertigkeiten
wieder verlernt haben.
■ Funktionaler Analphabetismus
bedeutet, dass die vorhandenen
Kenntnisse niedriger sind
als im Alltag gefordert. Betroffene
können zwar einzelne
Wörter oder Sätze lesen oder
schreiben, aber kaum inhaltliche
Zusammenhänge herstellen.
Entsprechend schwer fällt
es ihnen, Verträge und Anweisungen
zu lesen und zu verstehen,
E-Mails zu schreiben oder
Geräte zu bedienen. Weil ihre
persönliche Kompetenz nicht
reicht, fehlt außerdem der Zugang
zu normalen Bildungsangeboten.
Einrichtungen von Betroffenen
sehr schlecht angenommen werden.
„Diese niederschwelligen Lernangebote
sollen Menschen mit Leseund
Schreibschwierigkeiten in ihrem
alltäglichen Leben erreichen und sie
dort abholen“, so eine Pressemitteilung.
Jenseits der Alphabetisierung
wird auch das Sprachcafé im E-Werk
gefördert. „Zu diesem Treffpunkt sind
alle eingeladen, die Deutsch lernen,
sich in ihrer Sprachpraxis üben und
muttersprachliche Kenntnisse weitergeben
möchten“, beschreibt Lindel
das Konzept. Wer Interesse an anderen
Kulturen und Menschen hat,
ist dort ebenfalls richtig.
Besprechen sich im Begegnungszentrum und Mehrgenerationenhaus im E-Werk der Diakonie Stiftung Salem
zum Thema Alphabetisierung: Leona Schoppengerd-Brast und Siegmar Lindel. MT-Foto: Sabine Otterbeck
Viele Erwachsene in Deutschland können nur schlecht lesen und schreiben.
Das bedeutet Alltagsprobleme. Foto: Bernd Wüstneck/dpa
Wenn alltägliche Situationen
die Defizite verraten
Niederschwellige Lernangebote,
die Menschen im Alltag abholen
Das unüberschaubare Durcheinander von Buchstaben beenden: Selbst in fortgeschrittenem Alter hilft es, sich
mit den Themen Lesen und Schreiben zu beschäftigen. Foto: Jens Büttner/dpa