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MT-Interview: Noureddine Boulouh wurde teils belächelt, teils angefeindet. Seine deutscharabische Zeitung erscheint zum fünften Mal – und hat eine feste Leserschaft (#200in365, No. 119)

Noureddine Boulouh stammt aus Marokko. Er lebt seit 18 Jahren in Deutschland und schreibt
gerade an seiner Doktorarbeit. Foto: Benjamin Piel

Eine deutsch-arabische Zeitung? In Minden? Als Noureddine Boulouh das Projekt 2016 startete, war nicht jedem klar, was das sollte. Im Internet schrieben rechte Netzwerke von „Unterwerfung statt Integration“. Doch das ist gerade nicht, was der Arabischlehrer, Dolmetscher und Übersetzer, der gerade seine Doktorarbeit in Islamwissenschaft schreibt, will. Der Mann aus Marokko, der seit 18 Jahren in Deutschland lebt und 2014 für einen Lehrauftrag an vier Schulen nach Minden kam, möchte Flüchtlingen mit der „Minden Zeitung“ das Leben in der Region näherbringen. Deutsche Texte und ihre Übersetzung ins Arabische stehen direkt nebeneinander. Immer geht es um Neuigkeiten, die für Migranten wie für Mindener relevant sind. Die Zeitung liegt an Orten wie der Volkshochschule, in Moscheen, Kirchen und bei Flüchtlingshilfen aus. Der Verlag J.C.C. Bruns, der das Mindener Tageblatt herausgibt, unterstützt und druckt die Zeitung, die es als eBook auch hier gibt.

Wie sind Sie darauf gekommen, eine deutsch-arabische Zeitung an den Start zu bringen?

Weil es mir Spaß macht. Zusammen mit meinem Bruder habe ich 2012 die erste arabische Zeitung dieser Art in Deutschland ins Leben gerufen. Hier in Minden mache ich alles alleine. Das ist viel Arbeit. Mir ist eine gründliche und korrekte Übersetzung ins Arabische wichtig und dafür brauche ich lange. Redewendungen wie „ins Gras beißen“ oder „den Löffel abgeben“ zu übersetzen, ist gar nicht so einfach.

Was ist Ihr Ziel?

Ich möchte Migranten das Leben in Minden und Deutschland zeigen. Die Inhalte sollen motivierend sein, nicht destruktiv. Die Zeitung soll eine Plattform schaffen für die Kraft des Positiven. Flüchtlinge sollen etwas von dem mitbekommen, was in Minden passiert. Sie sollen wissen, was hier los ist und auch, was über sie gesagt wird. Die arabischen Leute in der Region kennen die Zeitung alle. Sie fragen mich immer, wann die nächste Ausgabe erscheint. Würde ich irgendwann merken, dass das nicht mehr so ist, würde ich aufhören. Mein größter Erfolg ist, wenn ich Leute in der Stadt sehe, die die Zeitung lesen.

Wie erleben Sie die Stimmung in Deutschland gegenüber Flüchtlingen?

Anfangs war da sehr viel Einsatz. Das war sehr schön. Vor allem nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln hat sich die Stimmung verändert. Es sind inzwischen weniger, die mit Flüchtlingen arbeiten und selbst einige der engagiertesten Flüchtlingshelfer haben inzwischen Zweifel, weil sie von kriminellen Flüchtlingen hören. Es gibt viele Ängste, aber zum Glück gibt es auch noch das Gute.

Warum lassen Sie deutsche und arabische Texte nebeneinander abdrucken?

Damit jeder die Texte lesen und verstehen kann. So kann auch jeder sehen, dass die Zeitung nicht religiös oder parteipolitisch ist. Ich überlege viel, was die Leute interessieren könnte. Vor allem möchte ich Aktivitäten, die es hier gibt, ins Licht rücken. Denn viele Flüchtlinge hassen die Sonntage, wenn nichts los ist, alle Geschäfte geschlossen sind, die Arbeit ruht und keine Schule ist. Da möchte ich zeigen, welche Möglichkeiten es hier gibt.

Es gibt den Vorwurf, eine Zeitung in arabischer Sprache sei das Gegenteil von Integration. Was sagen Sie zu solchen Vorhaltungen?

Die Zeitung fördert das Erlernen der deutschen Sprache. Es ist sehr wichtig, dass Flüchtlinge sich die deutsche Sprache erarbeiten. Die Leute können erst den deutschen Text lesen und dann den arabischen, um zu testen, was sie verstanden haben und was nicht. Das fördert das Lernen. Niemand, der Deutschanfänger ist, ist in der Lage, etwas sprachlich so Komplexes wie das MT zu lesen. Das wäre schön, aber es ist leider unmöglich. Die Realität ist, dass Flüchtlinge zu Hause sitzen und keine Chance haben, etwas auf Deutsch zu lesen. Bei der „Minden Zeitung“ ist das anders. Mein Ziel ist Integration durch Bildung. Allerdings: Wenn es um Integration geht, dann muss man sehr genau definieren, was damit gemeint ist.

Wie meinen Sie das?

Integration ist kein ganz unproblematischer Begriff – je nachdem, was damit gemeint ist. Bin ich nur integriert, wenn ich an meinem Geburtstag Sekt trinke, weil Deutsche das auch tun? Nein. Als Moslem trinke ich keinen Alkohol. Um solche Äußerlichkeiten geht es nicht. Es geht darum, mit ganzem Herzen hier zu sein, freundlich mit den Menschen zu sein, Kontakte zu haben, zu akzeptieren, dass man jetzt hier ist. So definiere ich Integration.

Welche Themen behandeln Sie in der neuen Ausgabe?

Beispielsweise Vandalismus gegen Kirchen, einen Vergleich zwischen der Erziehung von Kindern in Deutschland und in arabischen Ländern und die Verleihung des Bürgerpreises.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

„Im Zweifel für das Leben“ – Der Mindener Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Lange und andere Experten aus der Region haben so etwas wie die perfekte Patientenverfügung entworfen. Wie haben sie das geschafft? (#200in365, No.118)

Eine Patientenverfügung sollte möglichst eindeutig sein. Denn nur dann können die Wünsche des Patienten auch umgesetzt werden. Foto: Kai Remmers/dpa

Vordrucke für Patientenverfügungen gibt es in Deutschland unüberschaubar viele. Das Dickicht zu durchschauen und rechtlich auf der sicheren Seite zu sein, ist für Laien so gut wie unmöglich. Kaum jemand weiß das besser als der Mindener Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Lange. Er ist einer von deutschlandweit einem Dutzend Juristen, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen.

Im Jahr 2000 hatte er die Idee, so etwas wie die perfekte Patientenverfügung auf die Beine zu stellen. Um eine schlanke, verlässliche und für Patienten verständliche Verfügung zu erstellen, rief er damals erstmals ein Symposium zusammen. Das trifft sich seitdem alle ein bis zwei Jahre, um die Mindener Patientenverfügung, die auf zwei DIN-A-4-Seiten passt, auf dem neuesten Stand zu halten. Zu der Expertenrunde für die Mindener Patientenverfügung gehören Ärzte aus dem Johannes Wesling Klinikum, Vertreter des Palliativ-Ambulanten Netzwerks und des Hospizkreises.

Was ist, in zwei Sätzen gesagt, eine Patientenverfügung?

Eine Erklärung, die sich an die behandelnden Ärzte wendet, wenn der Patient seine Urteils- und Entscheidungsfähigkeit verloren hat und Vorstellungen für eine medizinische Behandlung nicht mehr selbst äußern kann. Damit kann ein Patient, der beispielsweise in eine unumkehrbare Bewusstlosigkeit geraten ist, sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Beatmung entscheiden.

Wie sind Sie darauf gekommen, dass die Mindener Patientenverfügung eine gute Idee sein könnte?

Es gab vor Ort keine Initiative dieser Art. Da dachte ich mir, dass ich aktiv werden muss. Es existieren deutschlandweit unzählige Vordrucke – mehr als 200 Druckerzeugnisse.

Da hätten Sie ja eigentlich auch auf die Idee kommen können, dass es nicht noch die 201. Verfügung brauchte.

Der Mindener Rechtsanwalt Dr. WolfgangLange. Foto:BenjaminPiel

Eben nicht. Denn eine wirksame Patientenverfügung zu errichten, ist bis heute eine Kunst. Wenn die Gesundheitssituationen und die unerwünschten ärztlichen Behandlungen nicht ganz genau beschrieben werden, besteht die Gefahr, dass die Patientenverfügung unwirksam ist. Die Mindener Patientenverfügung hält sich an Standards, die regelmäßig überprüft werden. In diesem Jahr wird das Symposium erneut zusammentreten, um Neuerungen einzuarbeiten. Die Verfügung hat den aktuellsten Standard und ist in ihrer Präzision und Schärfe die beste. Sie regiert durch Kürze und extreme Schlankheit.

Ist die Verfügung nur in Minden anwendbar oder können nur Mindener sie ausfüllen?

Der regionale Bezug im Namen war uns wichtig. Denn die, die sie erarbeitet haben und immer wieder überprüfen, sind aus der Region. Unabhängig vom Namen ist sie aber überall anwendbar.

In der Mindener Patientenverfügung sind Demenzfälle nicht eingearbeitet. Warum?

Das ist ein umstrittenes Thema. Ich bin ein strikter Gegner davon. Die Forschung in dem Bereich ist einfach noch nicht weit genug. Die Demenz verläuft in Schüben und selbst in der letzten Phase fühlen sich die Patienten nach der Ansicht von Medizinern nicht unbedingt unwohl. Würde in einer Patientenverfügung stehen „Wenn ich keinen mehr erkenne, dann…“ – wäre das zweifelsfrei diagnostizierbar? Wie empfinden die Betroffenen ihre Situation? Da ist das Gehirn ein schwarzer Kasten und wir wissen vieles schlicht noch nicht. Der Lebensschutz muss absoluten Vorrang haben. Würden wir daran herumdoktern, gäbe es kein Halten mehr. Für mich gilt: In dubio pro vita – im Zweifel für das Leben. Denn das Recht auf Leben ist unverbrüchlich. Das gilt für mich auch, solange die Medizin in der Demenzdiagnostik noch nicht eindeutig genug ist.

Sie sind also auch kein Anhänger der aktiven Sterbehilfe oder des assistierten Suizids?

Ganz ausdrücklich nicht.

Ist denn zu dieser Haltung eine Patientenverfügung kein Widerspruch?

Nein, denn es ist kein Sterbepapier, sondern ein Lebenspapier. Es begrenzt nur Situationen, die medizinisch ausweglos sind, etwa im Falle eines immer tödlichen Hirntumors.

Gilt beim Symposium Ihre Haltung als Maßstab oder das Mehrheitsprinzip?

Das Thema der Einarbeitung demenzieller Erkrankungen in Patientenverfügungen ist umstritten. Ich erwarte beim Symposium dazu eine spannende Diskussion. Werde ich überstimmt, dann wird das eingearbeitet. Wofür die Mehrheit der Beteiligten ist, das wird umgesetzt.

Vermutlich sind Abwägungsprozesse dieser Art nicht trivial.

Das ist richtig. Unter anderem deshalb, weil die Medizin eine Erfahrungswissenschaft ist, die Rechtswissenschaft eine nicht-empirische Disziplin. Das beißt sich manchmal und es prallen Gegensätze aufeinander.

Stimmt der Eindruck, dass das Interesse an Patientenverfügungen in der Gesellschaft aktuell nicht sehr groß ist?

Es stimmt, dass das Interesse an dem Thema Patientenverfügung schon mal größer war, vor allem, als es darum ging, eine gesetzliche Bestimmung zu erreichen. Danach hat eine Erschlaffungsphase eingesetzt, anschließend schwankte das Interesse. Aktuell hat das Thema nicht den ganz großen Stellenwert. Unabhängig davon bleibt es wichtig: Es geht um die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Wo gibt es die Unterlagen?

Die Patientenverfügung ist in allen hausärztlichen Praxen im Kreis Minden-Lübbecke gegen eine Gebühr von einem Euro erhältlich.

Zu bekommen ist sie auch bei allen Palliativmedizinern, beim Hospizkreis, Simeonsplatz 3, beim Paritätischen Betreuungsverein, Simeonstraße 17, im Öffentlichkeitszentrum, Kleiner Domhof 26, im Haus der Kirche, Rosentalstraße 6, im Seniorenbüro, Marienwall 9, und bei PariSozial, Bahnhofstraße 29, in Lübbecke.

Unter diesem Link gibt es die Verfügung online: https://www.kirchenkreis-minden.de/wp-content/uploads/2018/10/mindenerpatientenverfuegunga4.pdf

Dr. Wolfgang Lange ist Fachanwalt für Erbrecht in Minden. Das Thema Patientenverfügungen hat ihn interessiert und es ist „zu meinem Hobby geworden“, sagt er. Lange ist deutschlandweit einer der wenigen Experten für das Thema Patientenverfügungen. (bp)

Willkommen und Abschied – Svenja Ottos Sohn Constantin starb nach acht Monaten im Bauch seiner Mutter. Für die Mindenerin ist das der Grund, anderen Frauen zu helfen (#200in365, No.117)

Svenja Otto leitet die Gruppe Sternenkinder Minden. Die trifft sich einmal imMonatim Gemeindehaus in Südhemmern. MT-Foto: Benjamin Piel

Plötzlich waren die Herztöne weg. Constantin war im Bauch seiner Mutter gestorben. Vier Wochen vor dem Geburtstermin. Im August ist es drei Jahre her. Wenn Svenja Otto daran zurückdenkt, dann erinnert sie sich vor allem an eines: den totalen Kontrollverlust. Dass alles stehen zu bleiben schien. „Warum ich? Warum jetzt? Warum mein Kind? Habe ich etwas falsch gemacht?“ Diese Fragen hämmerten in ihrem Kopf.

Sie wurde durch das Krankenhaus geschoben. Sie wurde über Gänge gerollt, durch Türen und Schleusen zur Not-Operation. Sie musste Constantin zur Welt bringen, das plötzlich tote Kind. Und dann lag es auf ihrem Bauch, so klein und doch so komplett. Das Baby, für das alles bereit lag zu Hause, die Kleidung und die Windeln, die es nun nie tragen würde. Constantin war tot und Svenja Otto wusste kaum, was ihr geschehen war.

Es dauerte Monate, um das Erlebnis zu verarbeiten. Ein Jahr konnte die Lehrerin nicht arbeiten. „Ich bringe das Baby auch mal mit“, hatte sie ihren Schülern versprochen. Wie sollte sie denen erklären, was passiert war? Als sie zwölf Monate später vor ihnen stand, sprach sie es einfach aus und die Schüler reagierten mitfühlend. Sie erzählten von ähnlichen Fällen in ihren eigenen Familien und diese Gespräche hat Otto in guter Erinnerung. „Es ist viel passiert in Deutschland“, sagt sie. Worüber man früher gar nicht habe reden können, darüber seinen nun Gespräche möglich und es gebe Hilfsangebote.

Auf dem Nordfriedhof legte sie Constantin zur Ruhe, auf dem Sternenhimmel, einem Gräberfeld für Kinder. „Es ist gut, einen Ort zum Trauern zu haben“, findet sie. Über den Hospizkreis kam sie zur Gruppe Sternenkinder Minden, ein Gesprächskreis für Eltern. Die unterstützen sich gegenseitig, hören sich zu, finden Vertrauen und Nähe zueinander, sprechen sich Trost zu: „Du hast nichts falsch gemacht.“ Die Mindenerin ist sich sicher: „Ohne die Gruppe hätte ich nicht gewusst, wie es weitergehen soll.“

Auf dem Nordfriedhof gibt es ein Grabfeld für still geborene Babys und gestorbene Kinder. Das Kunstwerk „Sternenhimmel“ schufen Korbinian Stöckle und Heiko Schulze von der Glashütte Gernheim. MT-Foto: Alex Lehn (Archiv)

Ihre eigenen Erfahrungen sind für die 41-Jährige die Motivation, anderen Eltern in dieser Situation zu helfen. Seit einem Jahr leitet sie die Gruppe, die ihres Wissens die einzige in der Region ist. Zusammen mit ihrem Mann hat sie einen Handzettel und eine Internetseite entworfen, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen. Einmal im Monat treffen sich sechs Mütter und ein Ehepaar im Gemeindehaus Südhemmern. Das ist schon seit 15 Jahren der Treffpunkt der Gruppe, weil deren Gründerin aus der Gegend kam.

Dann setzen sich die Eltern an einen Tisch. Auf der Decke haben sie in bunten Farben die Namen der verstorbenen Kinder geschrieben. „Draußen“, sagt Svenja Otto, „haben die, die hier sind, nicht die Möglichkeit zu sprechen.“ Die meisten wollen die anderen nicht belasten. Und wer, der es nicht selbst erlebt hat, kann schon verstehen, wie das ist, wenn ein Kind vor der Geburt stirbt? „Draußen“, sagt Svenja Otto, „geht das Leben weiter – und das ist ja auch gut so.“ Aber das, was einige da draußen sagen, tut weh. „Es hat ja noch gar nicht gelebt“, hat mal jemand zu ihr gesagt. Aber hatte sie denn nicht den Herzschlag auf dem Monitor gesehen? Hatte sie nicht die Bewegungen in ihrem Bauch gespürt?

Acht Monate lang hat Constantin im Bauch seiner Mutter gelebt. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht an ihn denkt. Zu Ostern und Weihnachten kommt die ganze Trauer wieder hoch. Aber je mehr Zeit vergeht, desto dankbarer kann sie sein für die kurze Zeit mit ihrem bisher einzigen Kind. Für Constantin, dessen Leben kaum angefangen hatte, bevor es zu Ende ging.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur