Agentur-Berichterstattung in Krisen: Jedes Wort zählt, jedes Bild entscheidet

  
In der überregionalen Berichterstattung über die Flüchtlingskrise stützt sich das MT wie generell bei allen überregionalen Ereignissen auf die journalistische Kompetenz der Deutschen Presseagentur – die sich übrigens zur Sicherstellung einer unabhängigen Nachrichtenversorgung im Gemeinschaftsbesitz nahezu aller deutschen Zeitungen und mehrerer Rundfunkanstalten befindet, auch das MT gehört zum Gesellschafterkreis. Nachrichtenchef Froben Homburger schildert hier die speziellen Herausforderungen, die die Flüchtlingskrise an die Journalisten im Allgemeinen und die Nachrichtenagentur im Speziellen stellt. Wir dokumentieren den ursprünglich am 8. September in der “Frankurter Allgemeinen Zeitung” (FAZ ) veröffentlichten Beitrag im Wortlaut:

Tausende Flüchtlinge erreichen Deutschland. In München werden sie herzlich empfangen, in Heidenau gibt es Krawall. Mittendrin sind die Berichterstatter. Sie werden von allen Seiten kritisiert. Vor allem, wenn sie bei der Sache bleiben.

Ein dreijähriger syrischer Junge, ertrunken im Mittelmeer, angespült an einem Strand in der Türkei. Das Foto des toten Aylan ist zum grausigen Symbol der Flüchtlingstragödie geworden. Ein Anblick von verstörender Wucht, ein Bild, das schon jetzt Geschichte geschrieben hat.

Die Deutsche Presse-Agentur tut sich zunächst schwer damit, Fotos der Kinderleiche zu senden. Groß sind die Bedenken der verantwortlichen Redakteure, mit der Veröffentlichung die Würde des toten Jungen zu verletzen. Doch schließlich entscheidet der zentrale Newsdesk in Berlin: Auch dpa wird Aylan zeigen, das Gesicht des Kindes zuvor verpixeln. Die erstarrte Mimik im Moment des Todes soll nicht zur Schau gestellt werden.

Die Einsicht in die symbolische und politische Kraft der Bilder wiegt letztlich schwerer als der ethische Vorbehalt: „Auch die Visualisierung menschlichen Leids gehört zur journalistischen Grundversorgung durch die dpa“, sagt Chefredakteur Sven Gösmann, der für Deutschland eine besonders hohe Sensibilität in diesen Fragen feststellt: „In angelsächsischen und asiatischen Ländern ist der Umgang mit solchen Bildern traditionell weniger restriktiv.“

Eine empathische Nachrichtenagentur?

Tatsächlich spiegeln sich in der schwierigen Entscheidungsfindung die Haltungen der gesamten hiesigen Medienlandschaft wider: Manche Zeitungen und Online-Portale zeigen Aylan nur mit abgewandtem Kopf oder auf dem Arm eines Polizisten, andere frontal, aber mit verpixeltem Gesicht, wieder andere verzichten ganz auf einen Abdruck und beschreiben das Bild lieber mit Worten. Und fast alle Medien eint das Bedürfnis, ihre Entscheidung öffentlich zu begründen.

Das Ringen um den richtigen Umgang mit dem Schicksal des kleinen Jungen macht deutlich, wie herausfordernd die Berichterstattung über die Flüchtlingstragödie ist. Der Emotionalität eines so dramatischen Geschehens auch journalistisch mit Empathie zu begegnen ist naheliegend. Naheliegend ist auch der Wunsch, die eigene Berichterstattung möge etwas bewirken, die verzweifelte Lage vieler Flüchtlinge verbessern, die Debatte um politische Lösungen vorantreiben, das Herz der EU-Bürger öffnen, rassistische Ressentiments zurückdrängen. Aber wie vertragen sich Emotionalität und Empathie mit dem Selbstverständnis einer Nachrichtenagentur?

Auch dpa begleitet Flüchtlinge auf Etappen ihrer langen Reisen nach Deutschland, schildert in bebilderten Reportagen, Porträts und Features Einzelschicksale, gibt so der Tragödie Namen und Gesichter. Es sind Texte, die Gefühle wecken, die in ihrer Intensität und Sprache weit über das hinausgehen, was noch in den neunziger Jahren die reine Agenturlehre vorgab. In Analysen, Infoboxen und Expertengesprächen, in Grafiken, Audio- und Videobeiträgen beleuchten die Redakteure die Hintergründe des Geschehens, konfrontieren in Faktenchecks Vorurteile mit der Wirklichkeit, präsentieren und interpretieren Zahlen und Daten, die beim Verstehen helfen sollen.

Eilmeldungen als Munition gegen Flüchtlinge

Doch das Zentrum der dpa-Berichterstattung bildet auch in der Tragödie die Nachricht. Allein in den vergangenen zwei Monaten hat die Deutsche Presse-Agentur unter dem Stichwort „Flüchtlinge“ rund zweitausend Fotos und mehr als 2200 nachrichtliche Texte gesendet, vom fünfzeiligen Spot bis zur ausführlichen Zusammenfassung. Und gerade die kurzen, schnellen Agenturmeldungen, die eine Information ohne sprachliche Schleifen oder erklärende Teaser auf ihren Kern reduzieren, können bei dramatischen Ereignissen in ihrer Nüchternheit irritieren.

„Bis zu 3,3 Milliarden Sozialkosten zusätzlich für Flüchtlinge 2016“, überschreibt dpa eine Eilmeldung am 1. September – einem Tag voller bewegender Bilder aus Budapest und Griechenland und eindringlicher Appelle europäischer Politiker. Die knappe Aussage könnte Wasser auf die Mühlen jener Menschen sein, die den Wohlstand Deutschlands von den jüngsten Entwicklungen bedroht sehen.

„Eine solche Information ist in dieser Kürze ein schmaler Grat und kann, wenn sie nicht in Zusammenhänge eingebettet wird, leicht als Munition gegen Flüchtlinge eingesetzt werden“, warnt Christopher Lauer, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und Leiter Strategische Innovationen bei Axel Springer. Aber aus Angst vor Missbrauch eine wichtige Information verwässern? Natürlich nicht, sagt auch Lauer. Wichtig ist der Kontext, und den liefert dpa in Zusammenfassungen und einem Extratext: Welcher mögliche Gewinn steht den Kosten gegenüber? Wie wichtig ist Migration für die Wirtschaft? In welchem Verhältnis stehen die zusätzlichen Milliarden zur Finanzlage des Bundes?

Im Zweifel sachlich

„Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten in Heidenau“, titelt die Deutsche Presse-Agentur am Abend des 23. August. Die sprachlich etwas unbeholfene Formulierung ist inhaltlich durchaus begründet: Nach einer friedlichen Demonstration von Unterstützern des Flüchtlingsheims in der sächsischen Stadt beobachten dpa-Reporter gewaltsame Ausschreitungen. Eine Gruppe aus dem Antifa-Block greift an einer Tankstelle mehrere Menschen an. Ob es sich bei ihnen um Rechtsextremisten handelt, bleibt unklar. Die Reporter können sie nicht sicher identifizieren und sind auf Mutmaßungen angewiesen.

„Die Genauigkeit wirkt befremdlich“, kommentiert der Social-Media-Chef von „Spiegel“ und „Spiegel Online“, Torsten Beeck, im Kurzmitteilungsdienst Twitter. Befremdlich wirkt die Überschrift aber vor allem im emotionalen Kontext des Ereignisses: Über Tage hinweg sorgen rassistische Krawalle gegen das Asylheim in Heidenau bundesweit für Entsetzen. Die Stadt wird zum Inbegriff tumber Fremdenfeindlichkeit, dpa schreibt von „rechtem Mob“, von „Ausländerhass“ und „rassistischer Gewalt“. Jeder Mensch mit Herz und Verstand glaubt „gut“ und „böse“, Täter und Opfer zweifelsfrei benennen zu können.

Und ausgerechnet in diese Einigkeit aller Menschen mit Herz und Verstand platzt eine kleine dpa-Meldung, die für einen einzelnen Vorfall doch Zweifel anmeldet: Wir wissen nicht, ob dieser Angriff wirklich die „Bösen“ traf. Wer in Heidenau an der Straße steht, wird nicht automatisch dadurch zum Rechtsextremisten, dass die Antifa ihn angreift – auch wenn die Vermutung naheliegt. Aber es bleibt eben eine Vermutung. Und Nachrichtenagenturen müssen Vermutungen deutlich kennzeichnen und von Tatsachen trennen. Alles andere widerspräche den Regeln journalistischer Sorgfalt und Objektivität.

So konkret wie möglich

Hochemotionale Lagen verlangen ganz besonders nach klaren Aussagen und eindeutiger Positionierung. Und kleinteilige Genauigkeit weckt gerade dann Misstrauen: „Wer ständig Euphemismen für Nazis benutzt, ist vermutlich rechts“, twittert ein Kritiker stellvertretend für viele. Wenige Wochen zuvor war die dpa noch aus entgegengesetzter Richtung attackiert worden: Als „Volksverräter“, die „an die Wand gestellt“ gehören, als „Staatszerstörer“, „linkes Faschistenpack“ und „letzter Abschaum in diesem Land“ wird die Nachrichtenagentur in der Kommentarspalte zu einem Online-Artikel des Kopp Verlags beschimpft. Überschrift des Berichts: „Ihr seid Rassisten: DPA ruft zu Sprachzensur gegen Asylkritiker auf“.

Tatsächlich hatte dpa beschlossen, in der Berichterstattung über Proteste und Angriffe gegen Flüchtlinge künftig auf die missverständlichen und beschönigenden Pauschalbegriffe „Asylkritiker“ und „Asylgegner“ zu verzichten. Stattdessen sollen nun in jedem Einzelfall die Demonstranten und deren Motivation so konkret wie möglich beschrieben werden: Marschieren da durchweg NPD-Anhänger? Sind auch Fußball-Hooligans dabei? Anwohner, die sich belästigt fühlen? Rufen sie fremdenfeindliche Parolen? Tragen sie Kleidung oder Abzeichen, die auf rassistische Gesinnung hindeuten? Was steht auf Transparenten? Was ist auf Fotos, Videos zu erkennen?

Pedantisch genau zu beobachten und in aller Nüchternheit zu beschreiben ist eine besondere Herausforderung bei dramatischen Entwicklungen. Das schließt Emotionalität in der Berichterstattung auch von Nachrichtenagenturen keineswegs aus – ganz im Gegenteil: Die Zeiten, in denen der Agenturticker fast nur mit Meldungen und Zusammenfassungen gefüttert wurde, sind längst vorbei. Aber: Emotionalität darf niemals auf Kosten der nachrichtlichen Präzision gehen – auch dann nicht, wenn die Genauigkeit in einem emotionalen Umfeld befremdlich wirkt.

Von Froben Homburger, Nachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur

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