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Experiment Herbergsvater – Jonathan Löchelt ist der neue Leiter der Mindener Simeonsherberge. Aber er will mehr sein als jemand, der sich um seine Gäste kümmert (#200in365, No. 124)

Jonathan Löchelt ist mit seiner Familie aus Kassel nach Minden gezogen. Er will das Konzept der Simeonsherberge als „Herein- und Heraus-Haus“ ausbauen. MT-Foto: Benjamin Piel

Einen Mangel an Abenteuerlust kann Jonathan Löchelt und seiner Familie niemand vorwerfen. Der 35-Jährige, seine Frau Kerstin und die beiden Kinder (dreieinhalb Jahre und sechs Monate alt) sind aus Kassel aufgebrochen, um in Minden die Simeonsherberge in der Königstraße weiterzuentwickeln. „Ein Familienprojekt“, nennt er das.

Die Mischung aus Hostel und Gästehaus war entstanden, nachdem das ehemalige Pfarrhaus von St. Simeonis als solches nicht mehr gebraucht wurde. Anstatt es an einen Privatmenschen zu verkaufen, entschied sich der Kirchenkreis, es mietfrei dem Verein Weitere Wege zu überlassen. Der hatte sich unter anderem zu diesem Zweck gegründet. Vor eineinhalb Jahren waren die Renovierungsarbeiten abgeschlossen, das Gästehaus auf Selbstversorgungsbasis mit 18 Betten ging in Betrieb.

Seitdem laufe der Betrieb gut, die Zahl der Buchungsanfragen sei zufriedenstellend. Oft sind es Gruppen, die sich einmieten, manchmal melden sich auch Leute, die eine Feier planen und nach einer Übernachtungsmöglichkeit für ihre Gäste suchen. Der Herbergsbetrieb ist aber nur ein Teil von Löchelts Aufgabenspektrum. Der Mann, der eigentlich Lehrer ist, soll das Profil der Simeonsherberge als sogenanntes „Herein- und HerausHaus“ schärfen. Gäste zu empfangen ist das Eine, es geht aber auch darum, herauszugehen ins Viertel drumherum. „Menschen die christliche Botschaft bringen“, sagt Löchelt, als frische, neue Ausdrucksform von Kirche, die die Beziehung zu Menschen an die erste Stelle setzt. „Fresh X“, so nennt sich der Ansatz. Oder wie Löchelt sagt: „In der Kneipe mit den Leuten ein Bierchen trinken, das kann Kirche nicht immer so gut.“

Bereits seit einigen Wochen gibt es mittwochs den „Feierabend“. Leute aus der Umgebung treffen sich zum Essen und Reden. Löchelt hat noch viele Idee, wie er Menschen zusammenbringen könnte für die „drei Bs“ – Beherbergung, Begegnung, Botschaft. Innerhalb der kommenden Wochen will er aber erstmal „ankommen und Leute kennenlernen“.

Schließlich ist Minden für die Familie Neuland, auch wenn Kerstin Löchelt aus Vlotho kommt. Vor sechs Wochen sind sie in eine Wohnung nahe der Herberge gezogen. Vorher hat die Familie in Kassel gewohnt, wo das Ehepaar an der Hochschule des Christlichen Vereins junger Menschen (CVJM) arbeitete. Die Friedens- und Konfliktforscherin Kerstin Löchelt als Dozentin rund um das Thema Migration, ihr Mann als Sportreferent. Gezwungen wären sie zum Neustart nicht gewesen, aber: „Wir wollten uns verändern.“ Über einen befreundeten Pfarrer aus Minden kamen sie auf die Simeonsherberge. Neuanfänge scheut Jonathan Löchelt vielleicht auch deshalb nicht, weil er mit ihnen vertraut ist. Er ist in Südafrika geboren, wo sein Vater als evangelischer Pfarrer in Zululand gearbeitet hatte – „so richtig im Busch“. Erst im Alter von zehn Jahren kam er nach Deutschland.

Ganz so exotisch ist Minden nicht, aber das ändert nichts daran, dass Löchelt von seiner neuen Wahlheimat „ziemlich begeistert“ ist. Er hat eine Stadt kennengelernt, „in der man alles bekommt“ und mit dem Fahrrad vieles erreicht. Exotisch ist dafür die Stelle. Löchelt ist eine Mischung aus Herbergsvater, Pionierpastor (er hat neben Sportwissenschaft auch Theologie studiert) und Sozialarbeiter. Als solcher soll er – aus Spenden finanziert und erstmal auf drei Jahre angelegt – auch Zeit für jene Beziehungsarbeit haben, die bei Pastoren manchmal hinter der Verwaltungsarbeit unterzugehen droht. Löchelt will „experimentieren, ausprobieren – ohne Angst vor dem Scheitern“.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Drei Fragen an … Cornelia Köllmann und Andreas Jürgensmeyer „Wir sind eine demokratische Band“ (#200in365, No. 123)

Andreas Jürgensmeyer und Cornelia Köllmann sind Teil des ISO. MT-Foto: Piel

Das „Independent Sound Orchestra“ (ISO) ist eine Big Band im klassischen Sinne – Gitarre, Bass und Schlagzeug, umgeben von Posaunen, Trompeten und Saxofonen.

Wie schafft es eine Band, mehr als 30 Jahre lang am Leben zu bleiben?

Andreas Jürgensmeyer: Das ist etwas Besonderes. Wir haben auch noch zwei Ur-Mitglieder dabei, die die Band am Bessel-Gymnasium mitgegründet haben. Wichtig ist, sich weiterzuentwickeln. Innerhalb der vergangenen fünf Jahre hat sich unsere Ausrichtung gedreht. Seit 2017 haben wir auch Gesangsstücke im Programm.

Wie ergibt sich so eine Weiterentwicklung?

Andreas Jürgensmeyer: Das ist ein schleichender Prozess, der immer auch von Zufällen geprägt ist. Vor allem: Welche Musiker dazustoßen und welchen Schwerpunkt sie haben. Vor einigen Jahren gab es mal eine Zeit, da hatten wir sehr viel weniger Musiker. Das hat sich komplett gewandelt und die Stücke, die wir erarbeiten, sind immer anspruchsvoller geworden. Es wundert uns manchmal selbst, wie verlässlich die Leute zur Probe kommen. Der Freitagabend in der Jakobuskirche in Häverstädt ist für alle in Stein gemeißelt.

Warum nennen Sie sich eigentlich „independent“, also „unabhängig“?

Cornelia Köllmann: Es gibt keinen musikalischen Leiter oder Dirigenten. Wir sind eine demokratische Band, und es ist erstaunlich, wie gut das ohne Hierarchien funktioniert. Jeder kann sich bei den Proben einbringen.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Aufruf zu Anstand und Vernunft: Eine außergewöhnliche MT-Anzeige und ihre Geschichte

Wolfgang Battermann (von links), Joachim Radi und Peter Kock haben zusammen mit Nils Rosenbohm und Christoph Bulmahn die Anzeige mit dem Titel „Aufruf zu Anstand und Vernunft“ initiiert. MT-Foto: Nadine Schwan

Die ganzseitige Anzeige mit dem Titel „Aufruf zu Anstand und Vernunft“ dürfte vergangenen Samstag einige Leser überrascht haben – und einige vielleicht gar nicht. Ganz nüchtern, schwarz-weiß mit einem langen Text und einer Liste von 464 Namen fällt sie dennoch auf, zwischen den bunten Zeitungsseiten.

Mit ihr wollen fünf Freunde aus Minden und Petershagen ein Zeichen gegen Rassismus setzen und gegen den massiven Angriff auf die Demokratie, wie sie es empfinden, aufmerksam machen. Joachim Radi (67), Wolfgang Battermann (72), Peter Kock (49), Nils Rosenbohm (46) und Christoph Bulmahn (37) sind diese fünf Menschen, die sich dazu entschlossen haben, den Aufruf zu veröffentlichen. Sie sind Lehrer oder ehemalige Lehrer, das Gymnasium Petershagen verbindet sie.

„Das politische Klima geht uns schon seit einer Weile gegen den Strich. Wir wollten etwas machen, aber was?“, sagt Joachim Radi. Zusammen haben die Freunde beschlossen, keine Straßendemo zu organisieren und auch keine Podiumsdiskussion zu veranstalten, sondern ganz klassisch – fast schon altmodisch – einen Text zu schreiben und diesen in der Zeitung zu veröffentlichen.

Im Februar 1991 hatte Radi dies schon mal gemacht. Damals ging es um den Golfkrieg, 84 Menschen unterschrieben seinen Aufruf. Doch die Dimensionen waren kleiner, der Golfkrieg weit weg. Die aktuelle Situation, die im Text beschrieben wird, ist nah an den Menschen in der Region. Es geht um Hassbotschaften, Gewalt, Drohungen und das Tragen nationalsozialistischer Symbole – alles Dinge, die auch in Minden passieren.

Weil die Freunde nicht allein unter dem Text stehen wollten, sondern möglichst viele Mitstreiter und Gleichgesinnte ins Boot holen wollten, schickten sie ihn mit einem Begleitschreiben an ihre Freunde und Bekannte. Wer sie unterstützen wollte, musste mit seinem vollen Namen dazu stehen und mindestens zehn Euro an ein dafür eingerichtetes Konto überweisen. Mehr als 3.000 kamen zusammen. „Viele haben mehr Geld überwiesen, den Rest werden wir für gute Zwecke spenden“, sagt Battermann. Wohin? Das ist noch nicht entschieden.

Bis zum 31. Januar hatten die Unterstützer Zeit, dann war die Aktion beendet. „Später haben sich noch Leute bei uns gemeldet, die auch gern unterschrieben hätten, aber da war es zu spät und die Anzeige schon fertig“, sagt Radi. Von den vielen Menschen, die die Freunde angesprochen und angemailt haben, haben einige reagiert, manche aber auch gar nicht. Und wieder andere haben sich dagegen ausgesprochen. Die Reaktionen waren vielfältig, auch am Text wurde Kritik geübt. Das Wort Anstand sei Nazi-Vokabular, eine Position zu Linksextremen fehle, oder auch einfache Formulierungen wurden bemängelt, um ein paar Beispiele zu nennen. Auch, dass die fünf alle Männer sind und keine Frau in der Gruppe ist, wurde kritisiert. „Das hat sich so ergeben, wir haben keine repräsentative Initiative gegründet, sondern sind einfach Freunde“, sagt Radi.


Appell-Anzeige

Für Battermann ist unverständlich, dass manche seiner Bekannten das Papier nicht unterschreiben wollen. Die anderen nehmen es hin. „Es kann verschiedene Gründe haben, nicht zu unterschreiben“, sagt Peter Kock. Eine Frau hatte sich zum Beispiel bei ihnen gemeldet und geäußerte, dass sie Angst habe und Probleme mit dem Arbeitgeber bekäme, wenn ihr Name auf der Liste stehe – auch solche Reaktionen gab es.

Wichtig war den Männern, dass keine Parteien oder Vereine die Liste unterschreiben konnten. „Hinter der Unterschrift soll ein Gesicht stehen, eine Identität, kein Vereinsname“, sagt Radi. Er und seine Freunde hoffen, dass sie durch ihre Aktion positive Geister wecken können. „Demokratie und Freiheit sind offenbar für manche Menschen selbstverständlich geworden, aber die sind schneller weg, als man sie wieder aufbauen kann. Man muss dafür arbeiten“, sagt Battermann. Er und seine Freunde sind aber hoffnungsvoll.

In den sozialen Netzwerken, in denen solche Themen regelmäßig hochkochen, blieb es in der vergangenen Woche auffällig ruhig – jedenfalls dort, wo die MT-Redaktion Einblick hat. Anders bei den fünf Freunden: „Wir werden täglich angerufen und angemailt. Uns fragen die Leute, wie es jetzt weitergeht“, sagt Battermann. Hier hat sich vor allem Christoph Bulmahn schon Gedanken gemacht. „Ich kann mir vorstellen, ein Dialog-Format zu initiieren, in dem Menschen aufeinander treffen und diskutieren“, sagt er. Die genauen Pläne müsse die Gruppe aber erst besprechen. Die größte Frage, die sich den Männer dabei stellen dürfte, ist: Wie erreichen sie die Menschen außerhalb ihres Umfeldes – die, die anders denken?

Von Nadine Schwan, Redaktion Digitale Inhalte