Monthly Archives: Juli 2018

MT-Interview mit Achim Post: „Uns fehlt es am wuchtigen Auftritt“ (#200in365, No.28)

Achim Post (SPD). Foto: Alexander Heinl/dpa (© Alexander Heinl)

Achim Post ist ein Politiker, den der leichtfertig Urteilende schnell unterschätzen könnte. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Minden-Lübbecke ist kein sehr auffälliger Typ, niemand, der sich fortwährend in den Vordergrund spielt, keiner, der in der Gefahr stünde, die Talkshows der Republik mit seinem Wohnzimmer zu verwechseln. Weil das so ist, ließe sich der 59-Jährige als freundlicher, aber unbedeutender Parteisoldat verkennen. Doch der Sozialdemokrat aus Reihe zwei ist gut vernetzt außerhalb, vor allem aber innerhalb seiner Partei.

Der frühere Vize-Bundesgeschäftsführer der SPD gilt als Vertrauter von Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, ist außerdem Vorsitzender der einflussreichen NRW-Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion. Nur wenige dürften auf nationaler wie europäischer Ebene so tiefe Einblicke in die Partei haben wie der gebürtige Rahdener. Er sagt im MT-Interview, dass seine Partei zuletzt zu passiv gewesen sei.

Die SPD wirkte innerhalb der vergangenen Wochen oft wie jemand, der alles mit sich machen lässt. Seehofer agierte, die SPD positionierte sich zwar dagegen, ging in der öffentlichen Wahrnehmung aber unter. Die wirklich Mächtigen machen, die SPD macht mit. Was ist nur los mit Ihrer Partei?

In der Tat: Es fehlt oftmals am wuchtigen, am offensiven Auftritt. Wenn wir weiter zu passiv bleiben, wenn wir nur wie das fleißige Lieschen rüberkommen, das ordentlich seine Arbeit macht, kommen wir nicht weiter. Allerdings steht die gesamte Bundesregierung in der Verantwortung: Die Chaostage der CSU haben auch das Ansehen Deutschlands in Europa schwer beschädigt. So etwas darf sich nicht wiederholen!

Was wäre besser als die Arbeitsbiene zu sein, die keine Widerworte gibt?

Wir brauchen ein selbstbewusstes, klares Handeln, eine eindeutige Positionierung. Die SPD macht zwar gute Politik, aber im Moment zu viele „Geheimoperationen“, die öffentlich kaum wahrnehmbar sind. 80 Millionen Menschen in diesem Land müssen wissen, was wir wollen. Das ist gerade nicht ausreichend der Fall und das ist ein Problem. Am Ende muss es rote Linien geben, die wir nicht überschreiten werden. Diese Position ist derzeit zu wenig erkennbar, aber ich bin zuversichtlich: Das wird sich in Zukunft wieder ändern.

Die schlechte Erkennbarkeit mag auch zu tun haben mit SPD-Ministern wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz oder Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, die nicht gerade die charismatischsten Politiker sind, die Botschaften mitreißend vermitteln können. Leuchtstarke Typen wie Sigmar Gabriel und Martin Schulz sind derzeit kaltgestellt. Wäre es nicht sinnvoll, die beiden zu reaktivieren?

Das Kapitel der beiden ist ganz bestimmt noch nicht zu Ende. Sigmar Gabriel beispielsweise hat sehr viele Einladungen aus ganz Deutschland. Gerade in seiner Zeit als Außenminister wussten die Bürgerinnen und Bürger, was er wollte und wo sie mit ihm dran waren. Da gab es kein Rätselraten, unabhängig davon, ob man mit den Inhalten übereinstimmte oder nicht. Ich bin mir sicher: Martin Schulz und Sigmar Gabriel werden auch in Zukunft noch gebraucht. Übrigens finde ich, dass der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, gerade in den letzten Tagen und Wochen gezeigt hat, wie man es machen muss – mit klaren Aussagen etwa zur Zukunft der Rente oder zur Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes.

Wie sehr betrachten Sie mit Freude, dass die Union aus CDU und CSU zuletzt gleich mehrfach vor dem Scheitern gestanden hat?

Da empfinde ich gar keine Freude – ganz im Gegenteil. Die politische Lage im Lande ist viel zu ernst, als dass man sich wünschen könnte, dass die Union auseinanderbricht. Auf den ersten Blick ließe sich das der politischen Konkurrenz wegen vielleicht annehmen. Aber in Wahrheit ist es doch so: Ein Scheitern der Union würde vor allem der AfD in die Hände spielen. Wir brauchen in Deutschland aber keine Hetzer und Brunnenvergifter, sondern einen harten und fairen demokratischen Wettstreit bei der Suche nach den besten Lösungen für unser Land.

Apropos AfD: Wie hat sich die Situation mit der Partei im Bundestag entwickelt? Ist es besser oder schlimmer als vorher angenommen?

Nach einem Jahr muss man sagen: Es ist schlimmer als vorher angenommen. Die anderen Fraktionen haben zuerst nicht so richtig gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Schließlich ist die AfD von sechs Millionen Menschen gewählt worden, da wollte niemand alle AfD-Abgeordneten von vorne herein in die rechte Ecke stellen. Inzwischen ist aber längst deutlich erkennbar, dass es eine immer stärkere Bereitschaft der AfD gibt, sich immer weiter nach rechts zu bewegen. Rechtsradikale wie Björn Höcke lässt die AfD gewähren. Auf ihre unerträgliche Art und Weise versteht es diese Partei leider, Aufmerksamkeit zu erzeugen und zwar ausschließlich mit einem einzigen Thema. Um es auf den Punkt zu bringen: Diese sich weiter radikalisierende AfD gehört nicht in den Bundestag, sondern in den nächsten Bericht des Verfassungsschutzes.

Horst Seehofer hat auf seine Weise versucht, damit umzugehen. Nämlich, indem er versucht hat, das Thema Migration zu seinem Thema zu machen und zu versuchen, es der AfD zu nehmen. Statt zu gewinnen sinken die Umfragewerte für seine Partei aber. Überrascht Sie das?

Nein, gar nicht. Was Seehofer und die CSU getan haben, damit bekommt man die AfD nicht weg, im Gegenteil. Ich bin entsetzt und enttäuscht, dass die CSU nicht erkannt hat, dass Stammtischparolen nicht mit Stammtischparolen zu bekämpfen sind. So eine Politik kann nicht erfolgreich sein. Ehrlich gesagt bin ich erschüttert, dass es die CSU-Führung wegen der Landtagswahlen in Bayern geradezu darauf angelegt hat, wichtige Themen wie Rente, Pflege, Arbeit und Bildung in den Hintergrund zu drängen.

Wie haben Sie aus der Entfernung den vorerst gescheiterten Prozess des geplanten Umbaus der Mühlenkreis-Kliniken wahrgenommen?

Dass es richtig ist, die Gesundheitsversorgung für die Menschen im Mühlenkreis nachhaltig zu sichern, ist unbestritten. Aber einen solch missratenen Struktur- und Kommunikationsprozess habe ich bei uns noch nicht erlebt. Schade war dabei auch, dass Gräben zwischen den Altkreisen Minden und Lübbecke wieder aufgebrochen sind. Da ich als heimischer Abgeordneter im ganzen Mühlenkreis unterwegs bin, habe ich gerade in den zurückliegenden Jahren doch ein stärkeres Gefühl der Zusammengehörigkeit verspürt. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass bei uns demokratische Prozesse funktionieren: Nicht zuletzt die SPD im Kreis wie auch unsere Kreistagsfraktion haben gemeinsam mit Kommunalpolitikern aller Couleur, mit den Bürgermeistern, den Medien und vor allem den Bürgerinnen und Bürgern dafür gesorgt, dass diese Pläne gestoppt wurden. Was das angeht, war es kein gescheiterter Prozess, sondern ein Musterbeispiel einer lebendigen, funktionierenden Demokratie.

Minden-Lübbeckes Landrat Ralf Niermann hat in dem Zusammenhang keine gute Figur abgegeben. Hat Sie seine Entscheidung, bei der nächsten Wahl nicht mehr als Kandidat zur Verfügung zu stehen, überrascht?

Politische Ämter werden in unserer Demokratie von den Wählerinnen und Wählern auf Zeit vergeben. Auch deshalb respektiere ich die Entscheidung unseres Landrates nach dann 13 Jahren im Amt nicht wieder anzutreten, voll und ganz. Aus diesem Grund hat mich seine Entscheidung, die er im MT-Interview überzeugend begründet hat, nicht überrascht. Ich bin sicher, dass sich die SPD Minden-Lübbecke in den kommenden Monaten überlegen wird, wie die nächsten Schritte aussehen werden.

Wie ist Ihre Position zum Streitpunkt Bau einer Multihalle in Minden?

Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass eine solche Halle für Minden und den ganzen Kreis gut wäre. Aber natürlich muss nicht nur der Bau finanziell zu stemmen sein, sondern auch der Betrieb. Ich hoffe daher sehr, dass es den Beteiligten gemeinsam noch gelingt, einen verantwortbaren Weg zu Errichtung und Betrieb einer Multifunktionshalle zu finden.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Zur Person

Achim Post, geboren 1959 in Rahden, ist verheiratet und Vater von zwei Kindern

Nach dem Abitur am Söderblom-Gymnasium in Espelkamp 1978 Studium der Soziologie an der Universität Bielefeld (Abschluss 1986)

Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung

Von 1999 bis 2013 leitete Post die Abteilung Internationale Politik beim SPD-Parteivorstand in Berlin. Von 2002 bis 2012 stellvertretender Bundesgeschäftsführer der SPD.

Seit 2012 ehrenamtlich Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE)

Ab Oktober 2013 Mitglied des Bundestages für den Wahlkreis Minden-Lübbecke

Seit Herbst 2015 Vorsitzender der NRW-Landesgruppe in der SPD-Bundestagsfraktion

Stellvertretender Fraktionsvorsitzender ab Dezember 2017

Von September 2014 bis Juni 2018 Vize-Vorsitzender der SPD Minden-Lübbecke. (mt/tom)

Zum Jazzen in den Keller (#200in365, No.27)

(© Benjamin Piel)

Jazz hören, ja, das lieben sie. Aber über Jazz reden? Das fällt Matthias Niemann, Thomas Weber und Hermann Schürmann gar nicht so leicht. Wie würden Sie jemandem, der keine Ahnung hat, Jazz erklären? Schweigen. Mit Dixieland und Freejazz jedenfalls nicht, das seien eher die Klischees, tasten sie sich die drei vom Jazz Club Minden langsam voran. „Gute-Laune-Musik“, antwortet Geschäftsführer Weber, „ein lockeres Publikum – offen und liberal, denn das ist die Seele des Jazz“. Der könne so viel sein, meint der stellvertretende Vorsitzende Schürmann, mal rockiger, mal bluesiger, mal souliger, vieles berühre selbst die Klassik. Die freie Improvisation führt der Vorsitzende Niemann ins Feld. Klar machen diese Antworten jedenfalls eines: Jazz ist nicht so leicht fassbar. Oder wie es die Jazzclubber sagen würden: unfassbar gut.

Freilich ziehen nicht alle Stilrichtungen gleich stark, aber mit den Besucherzahlen sind die Jazz-Club-Macher sehr zufrieden. 250 Besucher dürfen hinein, oft, aber nicht immer, ist der Saal am Königswall ausverkauft. Der Vorverkauf für das Konzert der Band „Shakatak“ Mitte September beispielsweise läuft sehr gut. Kein Wunder, hatte diese Band in den 80er-Jahren doch großen kommerziellen Erfolg.

Wie schafft es die ehrenamtliche Führung eines 350-Mitglieder-Vereins, solche Musikgrößen in eine Stadt wie Minden zu bekommen? Inzwischen ist es offenbar eher andersherum. Nicht das Finden von Musikern ist das Problem, sondern das Aussieben aus den vielen Anfragen von Musikern und deren Agenturen. „Wir gehören zu den sechs ersten Jazzclubs in Deutschlands“, meint Thomas Weber, „in der Szene haben wir inzwischen längst einen Namen.“

Der Vorsitzende Niemann, der für das Booking verantwortlich ist, spricht von 40 bis 50 Mails am Tag, die er nach interessanten Angeboten durchsucht: „Wir können uns fast aussuchen, wer kommt.“ Und so treten selbst Szenegrößen wie Fourplay, Wolfgang Haffner, Kamasi Washington oder Torsten Good im Jazz Club auf. Es sei dieses breite Spektrum an Stilen, das den Konzertplan für viele interessant mache und dafür sorge, dass auch Menschen aus dem Ruhrgebiet oder aus Holland zu Konzerten anreisen würden. „Das ist das größte Lob für uns, und in solchen Fällen geben wir erstmal ein Bier aus“, betont Weber, der im EDV-Bereich arbeitet.

Bei Konzerten kann es schonmal kuschlig werden unten im Keller des ehemaligen Stammgebäudes der Brennerei Strothmann. Das Publikum sitzt dort nur einen Meter entfernt von der ohnehin nur zehn Zentimeter hohen Bühne. Auf der sieht das Publikum viele Stilrichtungen gerne, nur mit dem experimentellen Jazz, haben die Macher festgestellt, tun sich die Zuhörer schwer, weshalb dieses Genre so gut wie keine Rolle im ältesten ehrenamtlich geführten Jazzclub Deutschlands spielt.

Im Gründungsjahr 1953 trafen sich die Jazzbegeisterten übrigens bloß zum Plattenhören in der Villa Volkmann in der Marienstraße. Das ist längst vorbei. Und so kommt – Maler Niemann, unter seinen Kollegen ein Exot, kann es selbst kaum fassen – im November der Starbassist Stanley Clarke nach Minden. Weber macht unmissverständlich klar, was ihm das bedeutet: „Das ist, als würde Michael Jackson hier auftreten.“ Wie war das noch – die Ostwestfalen gehen zum Lachen in den Keller? Unsinn, sie gehen zum Jazzen in den Keller.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Die engen Gassen am Fluss – Jürgen Niemann ist vor fünf Jahren in die Fischerstadt gezogen und will das Viertel fördern (#200in365, No.26)

Jürgen Niemann liebt die Fischerstadt. Er möchte, dass mehr Mindener das Stadtviertel als besonders schönen Ort für sich entdecken. (© Benjamin Piel)

In die Fischerstadt hatten Jürgen Niemann und seine Frau eigentlich gar nicht ziehen wollen. Ein Haus in der oberen Altstadt hatten sie gesucht, aber nie gefunden. Durch eine Veranstaltung in der damaligen Literaturlounge kamen sie eines Tages in die Fischerstadt. Das marode Haus gegenüber stand zufällig zum Verkauf. „Es sah schlimm aus“, erinnert sich Niemann. Der Hof war vollgemüllt, das Fachwerk angegriffen. Das Paar hätte den Gedanken, sich des Hauses in Arme-Leute-Bauweise aus dem 18. Jahrhundert anzunehmen, gleich verworfen, wäre nicht dummerweise ihr Herz für die Immobilie und das Viertel entflammt.

Der Plan ließ sich nicht mehr los und so bauten und werkelten sie viereinhalb Jahre lang an der Immobilie herum, rissen Wände ein, legten Balken frei, räumten Müllberge weg, legten einen Garten an. Wäre Niemann seiner vieljährigen Tätigkeit als Holzhändler wegen nicht sehr im Thema gewesen, hätte er vermutlich nicht bis zum Ende des Projekts durchgehalten. Doch gelohnt hat es sich. Wer durch die enge Rosengasse läuft, nähert sich einer weißen Tür mit Treibholzgriff und Bullauge – ein Blickfang.

Die Gassen der Fischerstadt gehören vielleicht zu den schönsten in Minden. Trotzdem hat Niemann das Gefühl, dass selbst viele Mindener diese Gassen wahlweise entweder noch nie wahrgenommen haben oder den Eindruck, die Gassen seien Privatwege. „Das ist aber nicht so“, betont er und hofft, dass noch mehr Menschen die Fischerstadt als einen ihrer Lieblingsorte entdecken. Auch deshalb lädt er seit vier Jahren zusammen mit den anderen „Zeitdieben“ an jedem ersten Mittwoch im Monat zu Rundgängen durch das Viertel ein.

Dann lernen jeweils um die 20 Teilnehmer historische Persönlichkeiten aus der Fischerstadt kennen. Etwa Jobst Hinrich Lohmann, ein einfacher Bürger, der 1759 die Schlacht bei Minden mitentschieden haben soll. Weil er den Schlachtplan der Franzosen belauscht und weitergetragen haben soll, soll die Koalition aus Preußen, Briten, Kurhannoveranern und Hessen-Kasselern die Franzosen und Sachsen besiegt haben. Die Zeitdiebe stellen Lohmann und andere Persönlichkeiten aus der Fischerstadt dar. Die Mitglieder der Gruppe hatten sich schon vorher für die Fischerstadt eingesetzt, haben sich vor vier Jahren eher zufällig zusammengefunden. „Wir haben noch viele Ideen, die Fischerstadt bekannter zu machen“, sagt Niemann.

Den Zusammenhang im Viertel beschreibt Niemann als „doch noch recht groß“, die Mischung sei bunt. Dort leben Studenten und junge Leute ebenso wie Alteingesessene. Man kennt sich, man grüßt sich, man hält einen Plausch. Oder wie Niemann es ausdrückt: „Ich wohne auf dem Dorf mitten in der Stadt.“ Er vermutet, dass das einer der Gründe ist, warum er viele Leute kennt, die gerne ins Viertel ziehen würden. Doch die Enge und Dichte, die müsse man mögen, gibt er zu bedenken, viel Platz zum Ausweichen gebe es nicht. Die Zeiten, in denen vorwiegend Fischer und Schiffer dort wohnten und andere die etwas verwegene Fischerstadt und ihre Kneipe, die Kajüte, mieden, sind längst vorbei. Wie viele Menschen im Viertel leben, weiß Niemann nicht. Aber: „Eines Abends werde ich losgehen und eine Strichliste machen.“

Von Benjamin Piel, Chefredakteur