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„Die Bedeutung des Tourismus wird überschätzt“ – Die Hotelübernachtungen in Minden sind im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit Jahren gerutscht. Hotelier Bernd Niemeier zieht daraus bemerkenswerte Schlüsse (#200in365, No.128)

Der Mindener Hotelchef Bernd Niemeier sieht seine Branche von zu viel Bürokratie gegängelt.
Für die Stadt wünscht er sich mehr Nähe zur Weser. MT-Foto: Alex Lehn

In vielen deutschen Städten wächst das Gastgewerbe. 2018 haben Hotels und Restaurants deutschlandweit mehr als drei Prozent mehr umgesetzt als im Vorjahr. In Minden sieht die Situation weniger rosig aus. Die Hotelübernachtungen sind auf den niedrigsten Stand seit elf Jahren gerutscht. Seit drei Jahren geht es nur bergab. 2016 verzeichnete der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) noch um die 73.000 Übernachtungen, ein Jahr später waren es noch 67.000, im zurückliegenden Jahr nur noch wenig mehr als 65.000. Bernd Niemeier, Inhaber des Mindener Hotels Lindgart und Dehoga-Präsident in NRW, hat Ideen für eine Trendumkehr.

Als Laie habe ich den Eindruck, dass es in Minden wenige Hotels gibt. Stimmt das?

Nein, für eine Stadt dieser Größe ist die Struktur in Ordnung. Ein Problem ist dagegen die Anzahl der Übernachtungen. Rund um uns herum wächst es, hier nicht.

Interessieren sich Touristen nicht für Minden?

Die Bedeutung des Tourismus für die Hotelbranche wird überschätzt. In Minden macht der Anteil der Touristen an den Übernachtungsgästen sieben bis neun Prozent aus. Mehr als 80 Prozent sind Geschäftsreisende. Insofern sind wir von den heimischen Unternehmen viel abhängiger als vom Tourismus. Wenn die Firmen einen Schnupfen haben, dann haben wir eine Lungenentzündung. Warum die Anzahl der Übernachtungen 2018 so niedrig ausgefallen ist, kann ich im Detail nicht erklären.

Aber es lassen sich womöglich Schlüsse daraus ziehen. Zum Beispiel, dass es Neuansiedlungen von Hotels in Minden schwierig haben dürften.

So ist es. Wenn ich manche Leute davon reden höre, dass es ein neues Hotel in Minden brauchte, dann kann ich nur sagen: Wovon träumt ihr nachts? Unsere Jahresdurchschnittsbelegung liegt bei unter 60 Prozent. Eigentlich braucht man mindestens 60 Prozent, um profitabel zu sein. Wir schaffen es auch so. Aber klar ist: Für ein neues Hotel gibt es in Minden nicht das notwendige Potenzial.

Eine Multihalle könnte daran vielleicht etwas ändern Jemand wie Sie ist vermutlich ein glühender Kämpfer für deren Bau.

Nein, ich bin da skeptisch. Den Bau würde man schon finanziert bekommen, das ist nicht das Problem. Beim Betreiben, da sehe ich die Gefahr. Wenn die Stadt sagt: Kein Problem, da legen wir jedes Jahr eine oder eineinhalb Millionen Euro obendrauf, dann geht das. Aber wird die Stadt das auf die Dauer verlässlich können? Und selbst wenn das gewährleistet wäre, würde man die wirklich großen Künstler nicht bekommen. Die geben Konzerte in Hannover und vielleicht noch in Bielefeld, kommen dann aber nicht auch noch nach Minden.

Gibt es denn andere Ideen, von denen Sie annehmen würden, dass sie Minden weiterbringen würden?

Die Bedeutung der Weser ist in Minden noch immer nicht ausreichend erkannt worden. Da hat sich zwar schon einiges getan, aber ich sehe da noch viel Potenzial. Minden liegt ja nicht an der Weser, sondern an einer Straße, die an der Weser liegt. Das Weserufer attraktiver und belebter zu machen, würde sich lohnen. Und dann die Schlagde. Die Bremer haben es geschafft, ihre Schlagde zu einem touristisch attraktiven Ort zu machen, mit Biergärten, in denen der Punk abgeht und wo im Winter ein Weihnachtsmarkt stattfindet. Das würde ich mir für Minden auch wünschen.

Zurück zum Hotelgewerbe: Was erwartet ein Gast anno 2019?

Das hat sich sehr gewandelt. Früher wollte es der Gast besonders schön haben, gemütlich. Das spielt inzwischen eine kleinere Rolle. Heute gibt es drei Dinge, die wichtig sind: WLAN, WLAN und WLAN. Danach kommt lange nichts und dann eine gute Matratze und Vorhänge, die das Zimmer ordentlich verdunkeln.

Von Gastronomen und Hoteliers habe ich manchmal den Eindruck, sie würden sich in die Opferrolle flüchten.

So einfach ist das nicht. Wir haben einiges in Richtung Politik zu beklagen, aber dafür gibt es gute Gründe. Wir wünschen uns mehr Wertschätzung. Etwas mehr als 800.000 Menschen arbeiten in Deutschland in der Automobilindustrie. Die Politik streichelt die Autoindustrie bis zum Gehtnichtmehr. Die können sich alles Mögliche erlauben, bis hin zum Kriminellen. In der deutschen Gastronomie und Hotellerie arbeiten dagegen um die zwei Millionen Menschen. Aber wir bekommen ständig Stöcke zwischen die Beine geworfen.

Zum Beispiel?

Unser Chefkoch hat mal gekocht. Heute ist er zu 40 Prozent mit allen möglichen Dokumentationen beschäftigt. Das ist nur ein Beispiel für eine ausufernde Bürokratie. Oder nehmen Sie die Kontrollen. Da steht plötzlich der Zoll bei Ihnen, mit Waffen am Gürtel, und dann müssen alle Mitarbeiter alles stehen und liegen lassen, und sei es, dass die Gäste gerade beim Frühstück sitzen. Das kann es nicht sein. Oder die Arbeitszeiten. Wenn Sie eine Hochzeit organisieren, dann gibt es Angestellte, die müssen um 1.30 Uhr aufhören zu arbeiten. Soll ich der Hochzeitsgesellschaft dann das Licht ausdrehen? Diese Starrheit der gesetzlichen Regelungen passt nicht zu unserer Branche. Da erwarten wir mehr Entgegenkommen und dass wir nicht immer angesehen werden wie Räuber, von denen man annimmt, sie würden keinen Mindestlohn zahlen und Schwarzgeld zahlen.

Wobei Sie ja kaum behaupten können, dass es diese Fälle nicht gibt.

Aber die Branche ist riesig. Natürlich gibt es solche Fälle. Aber das ist ein verschwindend geringer Anteil. Den gibt es in jedem Wirtschaftszweig. Davon auf ein Gewerbe insgesamt zu schließen, gehört sich einfach nicht.

Warum heißt Ihr Hotel eigentlich Lindgart?

Wir waren jahrelang Franchise-Nehmer bei „Holiday Inn“. Der Vertrag lief dann aus und wir haben uns entschieden, ihn nicht auf Jahre hin zu verlängern. Es musste ein neuer Name her, der auch auf Englisch und Französisch aussprechbar und noch nicht geschützt ist Mein Sohn kam auf Lindgart weil wir an der Linden Französisch aussprechbar und noch nicht geschützt ist. Mein Sohn kam auf Lindgart, weil wir an der Lindenstraße liegen und einen schönen Garten haben.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Drei Fragen an … Heinz-Joachim Pecher und Thomas Bitter von der Traditionsgemeinschaft „Wir sind stolz auf die Bundeswehr“ (#200in365, No. 127)

Thomas Bitter (links) und Heinz-Joachim Pecher in der historischen Sammlung.

Seit 60 Jahren gibt es Pioniere in Minden, seit mehr als 25 Jahren die Traditionsgemeinschaft Herzog-von-Braunschweig-Kaserne. Die 160 Mitglieder starke Gruppe will den Austausch zwischen aktiven und ehemaligen Soldaten fördern und hat die Militärgeschichtliche Sammlung in der früheren Kleiderkammer aufgebaut.

Warum eine Traditionsgemeinschaft?

Heinz-Joachim Pecher: Zwischen Standort und Stadt gibt eine große Verbundenheit. Viele Soldaten schätzen das. Einige ziehen nach ihrer aktiven Zeit deswegen sogar nach Minden. Viele Dinge lassen sich in Netzwerk und gegenseitiger Hilfe lösen. Da hilft eine Gemeinschaft, in der die Kameradschaft lebt. Außerdem berichten Aktive über neue Entwicklungen oder Einsätze, auch politische Bildung ist ein Thema.

Das Wort Tradition ist nicht unbelastet in der Bundeswehr, spätestens seitdem in Kasernen Wehrmachtsdevotionalien gefunden wurden. Was bedeutet es Ihnen?

Thomas Bitter: Wir sind stolz auf die Bundeswehr – nicht auf die Wehrmacht. Die messerscharfe Abgrenzung ist in Minden leicht, weil die neu errichtete Kaserne erst 1959 bezogen worden ist.

Was zeigen Sie in der Sammlung?

Heinz-Joachim Pecher: Viele Entwicklungen, etwa der Ausrüstung und Technik. Viele staunen, wenn sie sehen, mit wie viel Körperkraft früher Brücken gebaut wurden. Ein anderes Thema sind Auslands- und Katastropheneinsätze. Wir sind stolz, dass wir hier diesen großen Raum haben.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

Ein Leben in Bildern – Wolfgang und Ingrid Wrenger aus Möllbergen haben mehr als 2.000 Lichtbildvorträge gehalten. Auch jenseits der 80 wollen sie weitermachen (#200in365, No.126)

Seit 61 Jahren verheiratet und „praktisch in allem unzertrennlich“: Ingrid und Wolfgang Wrenger aus Möllbergen.MT-Foto: Benjamin Piel

Lappland, Postschiffe, Südtirol und Antonio Vivaldi haben mindestens eine Gemeinsamkeit: Wolfgang und Ingrid Wrenger aus Möllbergen halten Lichtbildvorträge über sie. 46 haben sie im Programm. Wer Wolfgang Wrenger fragt, wann er über die Jahre wo welchen Vortrag gehalten hat und auf eine verschwommene Antwort hofft, bekommt eine Liste vorgelegt. Und da stehen sie, tabellarisch aufgereiht auf doppelseitig bedrucktem Papier: alle Vorträge, die die Eheleute jemals gehalten haben.

In der Friller Volkshochschule startete die Reihe am 13. November 1967: „Mit der Vogelschar durchs ganze Jahr“. Da war Wrenger 33 Jahre alt und das Fotografieren noch etwas Besonderes. Drei Leute in Möllbergen hatten damals einen Fotoapparat, entsprechend exklusiv war ein Lichtbildvortrag. Ihren jüngsten Vortrag haben die Wrengers am 4. Februar gehalten: „Norwegen in Schnee und Eis“. Es war der 2.049. Darunter hat Wolfgang Wrenger gleich ein paar Spalten frei gelassen. Als wolle er sich selbst sagen, dass es das ja wohl noch nicht gewesen sein könne. Vermutlich wird er recht behalten.

Inzwischen fotografiert auch er ausschließlich digital; Bilder haben an Wert verloren. Bis heute hält das Ehepaar viele Vorträge in der Weserland-Klinik in Bad Hopfenberg. Es kommen immer Leute, aber so viele wie früher sind es nicht mehr. Während einst 70 bis 80 Besucher kamen, seien es inzwischen nur noch zehn bis 40. Aber viele derer, die kommen, sind treue Anhänger: „Die schätzen, dass wir als Vortragende live da sind und nichts vom Band kommt – das lebt.“

29 Jahre lang ist Wrenger Schulleiter in Möllbergen gewesen. Schulmeister, wie das damals hieß. In dem Gebäude hatte er seinen ersten und seinen letzten Berufstag. Und weil Chorgesang anno 1966 noch eine große Bedeutung hatte und es sich für einen Schulmeister so gehörte, übernahm er nicht nur die Leitung des Gemischten, sondern auch des Schulchors, den er später in den Jugendsingkreis umbaute, den es bis heute gibt.

Als „westfälischer Zigeuner“ ist Wrenger in seiner Kindheit und Jugend viel herumgekommen. Über Lippstadt und Münster ging es von Bückeburg, Kleinenbremen und Gütersloh nach Möllbergen. Und seine spätere Frau? Die stand plötzlich am Bessel-Gymnasium – damals noch eine reine Jungenschule – vor ihm. Sie hatte dort Musikunterricht. „Ein Mädchen mit Geigenkasten an meiner Schule – ich konnte es kaum glauben und sie nicht vergessen , sagt Wrenger. Als er sie zum dritten Mal traf, nahm er allen Mut zusammen und sprach sie an: „Darf ich Sie ein Stück begleiten?“ Er durfte.

Seitdem sind sie „praktisch in allem unzertrennlich“, seit fast 61 Jahren verheiratet. Vom ersten Moment an ist die Musik ihr Begleiter gewesen und auch sonst haben sie fast alles gemeinsam gemacht: die Chorarbeit, die Reisen, die Vorträge, eine Volkstanz- und eine Volksmusikgruppe, später einen Flötenspielkreis, aus dem die Musikschule wurde, die Wrenger dann auch noch leitete.

Und als wäre das alles nicht genug gewesen, betreut das Ehepaar seit knapp drei Jahren auch noch eine Flüchtlingsmutter aus Eritrea und deren drei Kinder. Nach einem Gottesdienst hatte die Frau alleine in der Kirche gestanden. Wolfgang Wrenger sprach sie an – „und so ging das los“. Den Kindern hat er Deutsch beigebracht und hat die Familie zu Ämtern begleitet. „Das hat uns sehr viel gegeben“, sagt Ingrid Wrenger. Inzwischen arbeitet die afrikanische Mutter in einem Kindergarten, die Kinder gehen in die Schule: „Sie sind dabei, sich zu integrieren und wir begleiten das – es ist eine richtige Familienfreundschaft geworden.“

Wenn sie für das alles eines nicht wollen, dann ist das Anerkennung. „Uns muss keiner auf die Schulter klopfen“, sagt der Vater von vier Kindern. Nein, ihnen ist es sogar reichlich unangenehm, wenn jemand sie lobt. „Wir möchten etwas bewirken“, sagt Ingrid Wrenger, „aber im Zentrum stehen, das wollen wir nicht.“

Von Benjamin Piel, Chefredakteur