Von Benjamin Piel, Chefredakteur
Wer Menschen fragt, was sie von Journalisten erwarten, bekommt häufig ein Wort als Antwort: „Neutralität“. Diese Erwartung ist unerfüllbar.
Es leben bald acht Milliarden Menschen auf der Welt, und also gibt es acht Milliarden Interpretationen der Wirklichkeit. Ein Inder sieht seine Umgebung anders als ein Eskimo. Eine Frau schaut anders auf ihr Gegenüber als ein Mann. Ein Jugendlicher setzt andere Prioritäten als sein Urgroßvater. Ein Marathonläufer geht anders durch die Welt als ein Sumoringer. Keine dieser Weltsichten ist besser, legitimer oder wahrer als die andere. Bloß: Unterschiedliche Voraussetzungen machen Neutralität zur Unmöglichkeit. Das sollten sich Journalisten und Medienkonsumenten vergegenwärtigen.
Die Unmöglichkeit der Neutralität macht die Sehnsucht nach einer Instanz, die verlässlich Orientierung in einer unruhigen Welt bietet, aber nicht weniger legitim. Der berechtigte Anspruch, den andere an Journalisten und diese an sich selbst stellen sollten, ist: Unabhängigkeit. Die ist nicht nur erfüll-, sondern auch überprüfbar.
Medienleute haben in Parteien nichts verloren. Wie sollten sie unabhängig arbeiten, während das Parteibuch in der Jackentasche ihnen auf die Brust drückt? Wer unabhängig sein will, muss sich zurückhalten, wenn er selbst involviert ist. Etwas über die Schule schreiben, die der eigene Sohn besucht? Bloß nicht. Die Arbeit des Vereins begleiten, dessen Mitglied man ist? Unmöglich. Eine Rezension über ein Theaterstück schreiben, bei dem der Ehemann auf der Bühne steht? Geht nicht.
Gerade im Lokaljournalismus ist es eine große Herausforderung, durch den Dschungel möglicher Verbindungen zu navigieren. Aber das muss die Öffentlichkeit von Journalisten verlangen dürfen. Sie haben um einen Zustand zu kämpfen, der stets gefährdet ist. Denn wenn Journalismus nicht unabhängig ist, dann ist er kein Journalismus.
In Minden vermischen sich Journalismus und Politik mitunter auffällig. Etwa, wenn ein Mindener Ratsherr für eine Online-Plattform schreibt. Dann muss der Lesende sich fragen, wer da gerade spricht: Der Kommunalpolitiker oder die Privatperson? Aus welcher Motivation heraus entstehen die Texte? Loswerden kann ein schreibender Ratsherr den Dünkel des Geleitetseins von eigenen Interessen niemals, Journalismus betreiben kann er schon gar nicht. Und mehr noch: Als Ratsherr erfährt er Vertrauliches aus ihm zugänglichen Akten und in nichtöffentlichen Sitzungen. Der Interessenkonflikt zwischen den Rollen ist unauflösbar.
Journalismus ist auch nicht, wenn ein früherer Bürgermeisterkandidat in einem Anzeigenblatt kommentiert und die Mindener Kommunalfinanzen einordnet. Dass er meint, die Haushaltssanierung der Stadt sei glückstatt vernunftgesteuert, ist eine Meinung, die sich vertreten lässt. Doch in wessen Interesse? Wer eigene politische Ziele verfolgt, kann kein unabhängiger Beobachter der lokalen Politik sein.
Das alles ist schon immer ein wichtiges Thema gewesen. Doch seitdem Menschen Lügenpresse schreien und Journalisten misstrauen, ist die Frage nach der Unabhängigkeit sehr viel stärker in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Das ist unangenehm und sicher eine Herausforderung. Aber es lässt sich etwas aus dieser Situation machen. Statt die Lügenpresse-Rufer als Pack abzustempeln, sollten wir Journalisten die Gelegenheit nutzen, den eigenen Kompass zu überprüfen. Darin liegt eine große Chance für alle.