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“Lügenpresse”-Vorwürfe: Warum die Medien Misstrauen mit Offenheit begegnen müssen

Blick in den Newsroom der Berliner DPA-Zentralredaktion. Foto: DPA

Blick in den Newsroom der Berliner DPA-Zentralredaktion. Foto: DPA

Auch das MT bleibt davon nicht verschont: “Lügenpresse”-Rufe umrahmen den journalistischen Alltag inzwischen in einer Dauerschleife. Immer wieder mal wird auch den in der Mindener MT-Redaktion arbeitenden  Journalisten von einschlägigen Zweiflern Unwahrheit oder Unterschlagung unterstellt, erst recht stehen Nachrichten und Berichte unserer Nachrichtenagentur DPA unter Verdacht “regierungsamtlicher” oder sonstiger finsterer Mächte Steuerung. Dass diese Agentur eben gerade nicht wie die meisten anderen der Welt staatlich kontrolliert ist oder sich im Besitz eines ungreifbaren Finanzunternehmens befindet, sondern gemeinschaftlich von den deutschen Zeitungsverlagen und verschiedenen Rundfunkanstalten betrieben wird, ist unbekannt oder wird schlicht ignoriert.,

Wie die Deutsche Presse-Agentur sich mit den “Lügenpresse”-Vorwürfen auseinandersetzt, hat Nachrichtenchef Froben Homburger gerade in einem Beitrag für den Geschäftsbericht der Agentur beschrieben. Wir dokumentieren ihn an dieser Stelle, weil er auch die tägliche Berichterstattung auf den überregionalen Nachrichtenseiten des Mindener Tageblatts betrifft. Die werdem von der MT-Nachrichtenredaktion ganz überwiegend mit Berichten und Fotos dieser unserer Augen und Ohren in die Nachrichtenwelt zusammengestellt – oft in engem Kontakt, manchmal sogar nach gezieltem Wunsch aus Minden und immer nach von uns wie allen anderen Medienkunden eingeforderten und mitbestimmten Qualitätskriterien, auf die wir uns verlassen können. Hier Homburgers Text:

DPA

DPA-Nachrichtenchef Froben Homburger. Foto: Michael Kappeler/DPA

Es war ein eindrückliches Symbol der kollektiven Trauer und der internationalen Solidarität im Kampf gegen den Terrorismus: François Hollande, Angela Merkel und 40 weitere Staats- und Regierungschefs untergehakt an der Spitze des Trauermarschs für die Opfer der “Charlie Hebdo”-Anschläge von Paris. Die Bilder gingen im Januar 2015 um die Welt, auch die Deutsche Presse-Agentur informierte ausführlich – und sah sich wie viele andere Medien alsbald dem Vorwurf ausgesetzt, mit manipulativer Berichterstattung an einer großen Inszenierung mitgewirkt zu haben.

Eine riesige Lücke

Denn anders als die Bilder glauben ließen, führten die Spitzenpolitiker den Demonstrationszug durch die französische Hauptstadt keineswegs direkt an. Zwischen ihnen und den restlichen eineinhalb Millionen Teilnehmern klaffte eine riesige Lücke. Auf den meisten Fotos war der Sicherheitsabstand nicht zu sehen, und auch in den Meldungen und Korrespondentenberichten blieb er unerwähnt.

Die größte deutsche Nachrichtenagentur musste sich öffentlich erklären: Den dpa-Fotografen waren feste Plätze zugewiesen worden – ebenerdig. Eine Perspektive von oben, die die gesamte Szenerie erfasste, war so nicht möglich. Sehr wohl aber waren die Staats- und Regierungschefs auf der offiziellen Demonstrationsroute unterwegs und nicht, wie von einigen Kritikern behauptet, auf einer einsamen Nebenstraße. Sie gingen dem Trauermarsch also tatsächlich voran; aber eben mit großem Abstand und auch nur wenige hundert Meter.

Nichts wirklich falsch, aber auch nicht alles richtig

Die nachgelieferten Erklärungen zeigten: dpa hatte nichts wirklich falsch gemacht, aber eben auch nicht alles richtig. Wir hatten die Symbolik angemessen wiedergegeben, aber das “Making of” nicht transparent dargestellt. Eine präzise Beschreibung der Szenerie mit Hinweis auf die Sicherheitszone hätte die Irritationen vermeiden und den Verdächtigungen den Boden entziehen können. So aber sprach ein anonymer Briefeschreiber aus, was viele Verschwörungsanhänger in den sozialen Medien ähnlich skandierten: Er adressierte seinen Protest gegen die vermeintliche Manipulation an die “dpa-Zentralredaktion der Lügenpresse in Berlin”.

Inzwischen sind eineinhalb Jahre vergangen, und die “Lügenpresse”-Rufe umrahmen den journalistischen Alltag in einer Dauerschleife. Und längst bleibt es nicht mehr bei bösen Briefen, Tweets und Parolen: Immer häufiger werden Journalisten Ziele gewaltsamer Übergriffe. Auch ein dpa-Fotograf wurde im September vergangenen Jahres in Dresden bei der Arbeit attackiert und verletzt. Der Journalist fotografierte eine neue Zeltunterkunft für Flüchtlinge – Grund genug für den Angreifer, ihn als “Lügenpresse” und “Verleumder” zu beschimpfen und gegen ein Auto zu werfen.

Der Deutschen Presse-Agentur ergeht es damit nicht anders als den meisten Medien in Deutschland: Die Qualität ihrer Arbeit wird massiv infrage gestellt, auch kleine Fehler dienen Spöttern als Beleg für “Vollpfostenjournalismus”. Verschwörerische Fantasien speisen sich aus jeder Nachricht, die dem eigenen Weltbild widerspricht. In Konfliktfällen wittern die Kontrahenten die Berichterstattung jeweils vom Gegner gesteuert, egal ob es um militärische Auseinandersetzungen in der Ukraine oder um Streitigkeiten im Gemeinderat geht. Das Ansehen von Journalisten als Berufsgruppe war noch nie sonderlich hoch, doch nun droht den etablierten Medien ein dramatischer Vertrauensverlust.

So scheint es zumindest. Aber stimmt das überhaupt?

Tatsächlich habe sich das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung überhaupt nicht verändert, stellten die Medienforscher Carsten Reinemann und Nayla Fawzi von der Ludwig-Maximilians-Universität München nach der Auswertung von Langzeituntersuchungen fest: “Erstens steht ein Großteil der Deutschen der Presse und dem Fernsehen schon seit Jahrzehnten eher skeptisch gegenüber. Zweitens konnten Zeitungen und Rundfunk seit der Etablierung des Internets an Vertrauen gewinnen. Drittens hält sich der Anteil von Skeptikern und Vertrauenden etwa die Waage, wenn auch mit einem leichten Übergewicht für die Skeptiker”, schrieben die Wissenschaftler im Januar dieses Jahres in einem Beitrag für den Berliner “Tagesspiegel”. Titel des Textes: “Eine vergebliche Suche nach der Lügenpresse”.

Vertrauenskrise ein Wahrnehmungsproblem?

Ist die große Vertrauenskrise der Medien also womöglich nur ein Wahrnehmungsproblem? Gift und Galle ihrer Leser-, Zuhörer- und Zuschauerschaft begleiten Redaktionen, seit es Journalismus gibt. Doch was früher an Häme, Spott und Beschimpfung in der bilateralen Kommunikation auf dem Postweg versteckt blieb, hat mit den sozialen Medien eine öffentliche Bühne gefunden. Zusätzliche Wucht erhalten die Angriffe, weil sie argumentativ mit den sinkenden Auflagen der Tageszeitungen vermengt werden – als sei diese Entwicklung Ausdruck eines Vertrauensverlusts und nicht vor allem eines sich dramatisch ändernden Medienkonsumverhaltens.

Die Journalisten stehen inzwischen unter ständigem Rechtfertigungsdruck. Früher konnte der Redakteur Polemiken unbeantwortet im Papierkorb versenken, den Leserbriefschreiber in seiner Wut alleine lassen und damit im Schweigen halten. Heute versammeln sich die Wutbürger bei Twitter, Facebook & Co, bestärken sich gegenseitig im Gefühl, viele und vor allem die Guten zu sein, lautstarke Kämpfer gegen Verschwörung, Manipulation und Lüge. “Der Social-Media-Nachfolger der Schweigespirale ist die Schreispirale”, schrieb – in anderem Zusammenhang – der Blogger Sascha Lobo in einem Text für “Spiegel Online”.

Medien können sich Wut nicht entziehen

Und wir, die Medien, können uns dieser Wut nicht mehr durch schlichtes Ignorieren entziehen. Die digitale Welt kennt keinen Papierkorb und kein Vergessen, und das ist gut so: Die sozialen Medien sind schließlich auch unsere Bühne. Und wie wir uns dort präsentieren, wird ganz besonders aufmerksam von jenen Menschen verfolgt, die zwar schon an uns zweifeln, aber noch erreichbar sind für unsere stärksten Antworten auf die “Lügenpresse”-Anklage: Differenzierung, Transparenz und Kritikfähigkeit.

“Differenzierung ist Zivilisation”, sagt Sascha Lobo. Das gilt ganz besonders in hoch emotionalen Lagen, die eigentlich nach klaren Aussagen verlangen, nach eindeutiger Positionierung, nach Zuordnungen in “gut” und “böse”. Gerade Nachrichtenagenturen, die ohne Meinungsformate auskommen müssen, dürfen sich davon keinesfalls zu leichtfertigen Pauschalisierungen oder parteiischer Emotionalität verleiten lassen. Natürlich verweigert sich auch dpa nicht grundsätzlich einer empathischen Berichterstattung – etwa in Reportagen über Einzelschicksale in der Flüchtlingskrise. Die Nachricht und die einordnende Analyse müssen aber auch dann penibel, nüchtern und hochgradig differenziert bleiben, wenn sie damit auf das emotionale Umfeld verstörend wirken.

Auch deshalb verwenden wir nicht mehr irreführende Pauschalbegriffe wie “Asylgegner”, wenn wir über Proteste gegen Flüchtlingsheime berichten, sondern beschreiben die Teilnehmer möglichst konkret: Marschieren da NPD-Anhänger? Anwohner, die sich belästigt fühlen? Rufen sie fremdenfeindliche Parolen? Tragen sie Kleidung oder Abzeichen, die auf rassistische Gesinnung hindeuten? Was steht auf Transparenten? Was ist auf Fotos, Videos zu erkennen?

Sprachlich unbeholfen, journalistisch sauber

Der über Twitter kommunizierte Verzicht auf “Asylgegner” trug dpa im Sommer 2015 viel Hass ein: Wir gehörten als “Volksverräter” an die Wand gestellt, seien der “letzte Abschaum”, “Staatszerstörer”, “linkes Faschistenpack”. Wenige Wochen später kam scharfe Kritik aus der entgegengesetzten Richtung: Auf dem Höhepunkt der flüchtlingsfeindlichen Krawalle von Heidenau war in der Überschrift einer kleinen dpa-Meldung von “vermutlich Rechten” die Rede, die von linken Demonstranten angegriffen worden waren. Unsere Reporter konnten die attackierte Gruppe nicht eindeutig identifizieren, waren auf Vermutungen angewiesen und wollten das schon im Titel deutlich machen – sprachlich etwas unbeholfen, aber journalistisch absolut sauber.

Naheliegende Mutmaßungen als gesichertes Wissen auszugeben, kann eine große Versuchung sein. Für ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Medien und Gesellschaft ist es pures Gift. Von Journalisten wird zu Recht erwartet, dass sie Antworten liefern; aber sie haben diese Antworten nicht in jeder Lage sofort und zweifelsfrei. Gerade die Souveränität, momentanes Nichtwissen zuzugeben, schafft Vertrauen. Bei dpa und anderen Medien gibt es dafür inzwischen eigene Formate: “Was wir wissen – und was nicht” benennt die offenen Fragen bei großen Ereignissen und trennt sie transparent von den recherchierten Fakten.

Soziale Medien wichtiges Korrektiv

Misstrauen begegnen wir am besten mit großer Offenheit – erst recht, wenn uns Fehler unterlaufen. Gerade die sozialen Medien sind da ein wichtiges Korrektiv. Auch dpa hat schon mehrfach erfahren, dass es sich lohnt, hinter die Polemik einer digitalen Schmähkritik zu schauen und dort den berechtigten Hinweis auf einen Fehler in der Berichterstattung zu entdecken. Fehler öffentlich einzugestehen, transparent zu korrigieren und ihre Entstehung zu erklären, stärkt unsere Glaubwürdigkeit und lässt uns in künftige Qualitätsdebatten mit größerem Vertrauensvorschuss ziehen.

Transparenz verlangt auch, dass wir nicht nur berichten, sondern unsere Arbeit immer wieder beschreiben, Abläufe und Recherchewege offenlegen, inhaltliche Entscheidungen erklären und zur Diskussion stellen. Und zwar nicht erst im Nachhinein, wenn die Berichterstattung schon (zu) viele Fragen aufgeworfen hat. Warum nennt dpa den “Islamischen Staat” nicht auch “Daesh”? Warum transkribieren wir ukrainische Ortsnamen jetzt anders als noch vor ein paar Jahren? Warum nennen wir die Nationalität des Täters bei einem tödlichen Eifersuchtsdrama nicht? Nach welchen Kriterien legen wir fest, ob eine militante Gruppe aus Aktivisten, Aufständischen, Rebellen oder Terroristen besteht? Und wann kämpfen sie gegen eine Regierung, wann gegen ein Regime, und wann wird aus einem Staatschef ein Machthaber?

Selbstkritische Fehlerkultur

Vieles von dem, was uns Nachrichtenprofis selbstverständlich erscheint, erschließt sich außerhalb des Medienbetriebs nicht auf Anhieb. Wenn wir aber zu viel Wissen voraussetzen, verunsichern wir die Menschen, statt sie aufzuklären. Wenn wir “Lügenpresse”-Vorwürfe überwiegend mit Ignoranz, Arroganz und Gegenpolemik erwidern oder uns der Diskussion ganz verweigern, verstärken wir das Misstrauen auch bei jenen Zweiflern, die wir eigentlich noch erreichen könnten.

Und um diese Zweifel zu beseitigen und dafür neues Vertrauen aufzubauen, bedarf es differenzierter Argumentation, transparenter Arbeit und selbstkritischer Fehlerkultur. Nur so können klassische Medien die große Chance nutzen, die ihnen die digitale Überflutung der Gesellschaft mit richtigen und falschen, wichtigen und vernachlässigenswerten Informationen in Wahrheit ja bietet: sich als seriöse Nachrichtenlieferanten, verlässliche Verifizierer und unabhängige Erklärer unentbehrlich zu machen.

Von Froben HomburgerNachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur.

Der Beitrag stammt aus dem dpa-Geschäftsbericht 2015, der soeben erschienen ist.