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Zeichen des Aufbruchs MUT 03 // 35 RETTUNGSBOOT MATHEMATIK Viehhüter zum Rechenkünstler: groß gewachsen ist. Geboren wurde er im Rift Valley, eine Stunde westlich des Mau-Walds, dem größten indigenen Urwald Ostafrikas. Manchmal fanden Elefanten den Weg in sein Heimatdorf aus Lehmhütten, eine Stromleitung aber führte nicht dorthin. Langat hat dort die Grundschule besucht – aber nur wenn seine Mutter Geld für die Schulgebühren auftreiben konnte. Wenn nicht, hütete er Rinder im Buschland am Mara-Fluss. Die Schule war ihm lieber. „Mathe habe ich schon immer gemocht. Es ist, als entschlüssele man Geheimnisse.“ Oft testeten ihn Klassenkameraden mit Aufgaben, über die er bis tief in die Nacht grübelte. Am Morgen rannte er zur Schule, weil er nicht erwarten konnte, die Lösung zu präsentieren. Das AIMS ist ein Treibhaus Als er drei Jahre alt war, starb sein Vater an Tuberkulose, und als er elf war, starb seine Mutter bei einem Raubmord. „Ich glaube, das hat mich stark werden lassen.“ Mathematik war ab jetzt ein Rettungsboot, auf dem er durchs Leben trieb. Weil es sich im Dorf herumgesprochen hatte, wie gut er war, förderte die Lokalregierung den Waisen mit einem Stipendium. Und weil er an der Schule der Beste war, spendierte ihm eine Teefirma aus der Region einen Studienplatz an der Universität von Nairobi, später ein britischer Teekonzern sogar einen Studienplatz in England. Für die Leute im Dorf war es unfassbar, dass einer von ihnen so etwas geschafft hatte. „Niemand aus dem Dorf ist jemals ins Ausland gegangen“, sagt Langat. Auch am AIMS muss er nichts für Unterkunft und Unterricht bezahlen. Die laufenden Kosten trägt die südafrikanische Regierung, die Stellen im angegliederten Forschungszentrum, an dem manche Studenten später den Doktor machen, werden durch Kooperationen und Stiftungen finanziert. Mit dabei ist etwa die Humboldt-Stiftung; der „German Research Chair“ mit dem gambischen Data-Sciences-Forscher Bubacarr Bah wird über ein Projekt des deutschen Bildungsministeriums bezahlt. Die Dozenten bekommen nur eine Aufwandsentschädigung. Selbst Koryphäen wie der ehemalige NASA-Chef Michael Griffin und Physik-Nobelpreisträger George Smoot. „Wir tun etwas Sinnvolles“, sagt Juerg Weber. Deswegen war er schon dreimal hier. „Das AIMS ist ein Treibhaus“, sagt Barry Green, der Direktor. Die ideale Atmosphäre, der ideale Nährboden für junge Talente. „Nicht alle wachsen zur selben Größe und in dieselbe Richtung, aber alle wachsen.“ Auch das AIMS ist gewachsen, weil sich andere afrikanische Länder von dem Konzept überzeugen lassen. Vier Ableger gibt es bereits: in Ghana, Senegal, Kamerun und Ruanda. Neil Turok, der das AIMS 2003 gegründet hat, hätte gerne bald 15 Institute. Damit würde Afrika jedes Jahr um 750 hochqualifizierte und motivierte Mathematiker reicher, wie Turok in seinen Vorträgen vorrechnet. Die Kosten, um die Einrichtungen zehn Jahre lang zu betreiben, betrügen etwa 120 Millionen Dollar. Das wäre ein winziger Bruchteil der Entwicklungshilfe für Afrika. Turok, geboren 1958 in Johannesburg als Sohn weißer Apartheidgegner und ein renommierter Astrophysiker, der eng mit dem kürzlich verstorbenen Stephen Hawking zusammengearbeitet hat, ist sich sicher, dass diese Wissenschaftler Afrika wieder auf Spur bringen werden. Schließlich sei Mathematik die Grundlage unseres modernen Lebens – mit all seinen Algorithmen, hochkomplexen Finanzmärkten, Big Data und Smartphones in allen Hosentaschen. Bei richtiger Ausbildung der 1,3 Milliarden Afrikaner ist der Aufschwung allein eine Frage der Statistik. Neil Turogs Fazit: „Der nächste Einstein kommt aus Afrika!“ Der mühsame Weg vom Vincent Langat 1 Südafrika Die Wirtschaft des Landes ist weiter entwickelt als andere auf dem Kontinent. Der prominenteste Südafrikaner ist der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Sein Name ist mit der Abschaffung des rassistischen Apartheidsregime vor 24 Jahren verbunden.


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