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Reportage Im Schatten eines Avocadobaumes erwartet Melenia Motokari ihre Patienten. 24 // MUT 03 Locken winden sich um den Kopf wie ein dunkler Heiligenschein. Motokari strahlt die Gelassenheit einer 73-Jährigen aus, die sechs Kinder geboren und 23 Enkelkinder aufgezogen hat. Sie hat Lachfältchen um die Augen, ihr Blick ist sanft. Dorcas Gumbeze, gerade halb so alt wie sie, rutscht auf den freien Platz neben ihr. „Willkommen, mein Kind“, begrüßt Melenia Motokari die junge Frau. „Hallo Gogo, Großmutter“, antwortet die Besucherin. Gogo ist die liebevolle Bezeichnung für alte, kluge Damen. Mit gesenktem Kopf starrt Gumbeze auf ihre Finger, kratzt am dunkelblauen Nagellack. Schweigen. Melenia Motokari nimmt ihre Hand. „Du kannst mir anvertrauen, was auf dir lastet.“ Zum ersten Mal blickt ihr Dorcas Gumbeze in die Augen. „Ich traue mich nicht, meiner Familie und Freunden zu gestehen, dass ich HIV-positiv bin“, beginnt sie stockend. „Ich habe Angst, dass sie mich dafür verachten.“ „Es gibt keinen Grund, dich schuldig zu fühlen“, sagt Melenia Motokari. Gumbeze bleibt stumm. Aber nach einer Weile scheint sich ein Knoten zu lösen, rollen die Worte in ihrem weichen Shona aus ihr heraus. Es ist das erste Mal, dass sie über ihren Kummer spricht. Über Angst zu sterben und Angst vorm Leben. Über ihren Traum, Tomaten und Kartoffeln zu verkaufen, nicht mehr ihren Körper. Melenia Motokari hört zu und schreibt mit. Es wird eine lange Liste. Auf ihrem Schoß liegt ein Fragebogen. „Hast du in letzter Zeit Probleme, dich zu konzentrieren?“– „Ja“, antwortet Dorcas Gumbeze leise. „Fehlt dir die Kraft, für dich oder andere zu sorgen?“ –„Ja.“ –„Plagen dich Albträume?“ –„Ja.“ –„Hast du schon einmal daran gedacht, dich umzubringen?“ Stummes Nicken. Am Ende hat die junge Frau elf von vierzehn Punkten zugestimmt. Elf Symptome, die zeigen, dass ihre Seele krank ist. Melenia Motokari wird sie nicht von HIV und Prostitution erlösen, aber sie kann versprechen, kommende Woche wieder auf der Bank für sie da zu sein. Was sich an diesem Morgen im Garten der Klinik Glen Norah am Rand der Hauptstadt Harare abspielt, gleicht einer stillen Revolution in einem Land, in dem Menschen mit psychischen Problemen stigmatisiert sind. Jeder sechste ist mit HIV infiziert und fast jeder vierte leidet an Kufungisisa. Es ist das Wort für Depression und bedeutet in der Landessprache: Wenn du zu viel denkst. Wenn Sorgen nachts in den Schlaf kriechen, Angst alle Kraft raubt. Es ist ein Tabu, über psychische Krankheiten zu sprechen. Obwohl oder gerade weil Selbstmord eine erschreckend häufige Todesursache in Simbabwe ist. In Entwicklungsländern werden Depressionen und psychische Erkrankungen durch Konflikte, Krisen und Armut verschlimmert. Diktator Robert Mugabe hat Simbabwe über Jahrzehnte in den Ruin regiert, Tausende weiße Farmer gewaltsam enteignet, bis die Kornkammer Afrikas zu einem der ärmsten Länder der Welt verkam. Vor den wenigen Bankautomaten stehen Menschen stundenlang Schlange, obgleich die einheimische Währung kaum noch Wert besitzt. Ein bleibender Reichtum des Landes sind Großmütter wie Melenia Motokari, die Geduld und Zeit mitbringen, um Leid zu lindern. Sie warten auf Freundschaftsbänken und hören zu. Menschen wie Zombies Im Zentrum von Harare, nur 40 Autominuten entfernt und doch in einer anderen Welt, steht Dixon Chibanda vor der Fensterfront seiner Privatpraxis. Die Mittagssonne bricht durch das Glas. Villen verstecken sich hinter haushohen Mauern. In einem Land mit gut 15 Millionen Einwohnern ist Chibanda einer von zwölf Psychiatern. „Wir sind viel zu wenige.“ Der Arzt ist 51 Jahre alt, „Wir sind ein traumatisiertes Volk.“ DIXON CHIBANDA


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