4 Editorial
Voller Verzweiflung, voller Hoffnung
2019 war das Jahr einer Welt, die in vielfacher Hinsicht am Scheideweg steht
Oft bin ich mir wie jemand
vorgekommen, der einschneidende
historische Ereignisse
immer um Haaresbreite verpasst.
Nur vage kann ich mich
an das Grau der DDR erinnern.
Und vermutlich auch
weniger ans Grau als an die
Angst meiner Eltern, die ich
spürte, wenn wir uns im Auto
der Grenze näherten. Als die
Mauer fiel, war ich vier Jahre
alt und erinnere mich an –
rein gar nichts.
Was beneide ich die ältere
Schwester meiner Frau, deren
Familie aus der ehemaligen
DDR stammt. Die Schwester
taumelte am 9. November
1989 rüber nach West-Berlin
und konnte ihr Glück kaum
fassen. Wenn sie von diesem
Erlebnis erzählt, lacht sie, wie
nur jemand lachen kann, dem
sich eine historische Freude
eingeprägt hat.
Und als ich als Jungredakteur
ins Wendland zog, freute
ich mich schon auf meinen
ersten Castor-Transport ins
Zwischenlager nach Gorleben.
Massenproteste, an Schienen
gekettete Aktivisten, Wasserwerfer
und Krawall – die Aussicht,
das zu begleiten, ist für
einen jungen Journalisten
nun wahrlich nicht das
Schlechteste. Doch was passierte?
Just im Jahr meines
Wechsels fiel die Entscheidung,
dass keine Castoren
mehr nach Gorleben rollen
sollten. Keine Proteste, keine
Wasserwerfer, kein Krawall,
nichts. Wieder verpasste ich
ein historisches Ereignis haarscharf.
Und heute? Im Jahr 2019?
Es mag scheinen, als sei es so
historisch oder unhistorisch
verlaufen wie alle Jahre. Tatsächlich
aber leben wir in Zeiten,
in denen Dinge geschehen,
die man in der Rückschau
einmal als einschneidend
bezeichnen wird. Der
Klimawandel zeigt sich so
deutlich wie nie zuvor. Junge
Menschen protestieren dafür,
dass Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft mehr tun müssen,
um das Schlimmste abzuwenden.
Ganz nebenbei
läuft eine Revolution, die gravierendere
Folgen haben
dürfte als die Erfindung des
Buchdrucks. Die Digitalisierung
ist in vollem Gange und
wirbelt alles durcheinander.
Sie gibt den bisher Sprachlosen
eine Ausdrucksmöglichkeit,
Despoten unendliche
Möglichkeiten der Kontrolle,
Demagogen ist sie ein Megafon,
stellt aber auch Verbindungen
zwischen Menschen
her, die sonst getrennt wären.
Die Digitalität macht das Leben
vielfach bequemer, ist
aber auch eine Belastung, weil
viele Menschen kaum verarbeiten
können, was da alles
auf sie einprasselt.
Es ist nicht gewagt, zu behaupten:
Wir leben in historischen
Zeiten, in einer Gegenwart
hundertfacher Umbrüche,
von denen nicht klar ist,
wohin genau sie uns führen
werden. Manchmal erwische
ich mich bei dem Gedanken,
wie anstrengend es ist, diesen
Sog zu spüren, ohne zu wissen,
wohin er uns treibt. Es
wäre einfacher, in der guten,
alten, undigitalen Zeit und in
der als größer empfundenen
Sicherheit zu leben.
Aber hatte ich mir nicht immer
gewünscht, in einer historisch
bedeutsamen Zeit zu
leben? Jetzt ist es soweit! Das
Jahr 2019 war diese Zeit. Das
Jahr 2020 wird diese Zeit sein.
Ein Zeitalter des Verzweifelns
und des Hoffens – in jedem
Fall ein Zeitalter, über das
man in hundert Jahren noch
sprechen wird.
Beim Blick zurück aufs vergangene
Jahr wünsche ich Ihnen
viel Freude. Und dann
einen hoffenden Blick voraus!
Ihr Benjamin Piel
Chefredakteur
MT-Chefredakteur Benjamin Piel hat sich immer gewünscht, in
historisch bedeutsamen Zeiten zu leben. Nun ist es so weit!
I M P R E S S U M
Jahresrückblick 2019
Ein Magazin des Mindener Tageblatts
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