Aufruf zu Anstand und Vernunft: Eine außergewöhnliche MT-Anzeige und ihre Geschichte

Wolfgang Battermann (von links), Joachim Radi und Peter Kock haben zusammen mit Nils Rosenbohm und Christoph Bulmahn die Anzeige mit dem Titel „Aufruf zu Anstand und Vernunft“ initiiert. MT-Foto: Nadine Schwan

Die ganzseitige Anzeige mit dem Titel „Aufruf zu Anstand und Vernunft“ dürfte vergangenen Samstag einige Leser überrascht haben – und einige vielleicht gar nicht. Ganz nüchtern, schwarz-weiß mit einem langen Text und einer Liste von 464 Namen fällt sie dennoch auf, zwischen den bunten Zeitungsseiten.

Mit ihr wollen fünf Freunde aus Minden und Petershagen ein Zeichen gegen Rassismus setzen und gegen den massiven Angriff auf die Demokratie, wie sie es empfinden, aufmerksam machen. Joachim Radi (67), Wolfgang Battermann (72), Peter Kock (49), Nils Rosenbohm (46) und Christoph Bulmahn (37) sind diese fünf Menschen, die sich dazu entschlossen haben, den Aufruf zu veröffentlichen. Sie sind Lehrer oder ehemalige Lehrer, das Gymnasium Petershagen verbindet sie.

„Das politische Klima geht uns schon seit einer Weile gegen den Strich. Wir wollten etwas machen, aber was?“, sagt Joachim Radi. Zusammen haben die Freunde beschlossen, keine Straßendemo zu organisieren und auch keine Podiumsdiskussion zu veranstalten, sondern ganz klassisch – fast schon altmodisch – einen Text zu schreiben und diesen in der Zeitung zu veröffentlichen.

Im Februar 1991 hatte Radi dies schon mal gemacht. Damals ging es um den Golfkrieg, 84 Menschen unterschrieben seinen Aufruf. Doch die Dimensionen waren kleiner, der Golfkrieg weit weg. Die aktuelle Situation, die im Text beschrieben wird, ist nah an den Menschen in der Region. Es geht um Hassbotschaften, Gewalt, Drohungen und das Tragen nationalsozialistischer Symbole – alles Dinge, die auch in Minden passieren.

Weil die Freunde nicht allein unter dem Text stehen wollten, sondern möglichst viele Mitstreiter und Gleichgesinnte ins Boot holen wollten, schickten sie ihn mit einem Begleitschreiben an ihre Freunde und Bekannte. Wer sie unterstützen wollte, musste mit seinem vollen Namen dazu stehen und mindestens zehn Euro an ein dafür eingerichtetes Konto überweisen. Mehr als 3.000 kamen zusammen. „Viele haben mehr Geld überwiesen, den Rest werden wir für gute Zwecke spenden“, sagt Battermann. Wohin? Das ist noch nicht entschieden.

Bis zum 31. Januar hatten die Unterstützer Zeit, dann war die Aktion beendet. „Später haben sich noch Leute bei uns gemeldet, die auch gern unterschrieben hätten, aber da war es zu spät und die Anzeige schon fertig“, sagt Radi. Von den vielen Menschen, die die Freunde angesprochen und angemailt haben, haben einige reagiert, manche aber auch gar nicht. Und wieder andere haben sich dagegen ausgesprochen. Die Reaktionen waren vielfältig, auch am Text wurde Kritik geübt. Das Wort Anstand sei Nazi-Vokabular, eine Position zu Linksextremen fehle, oder auch einfache Formulierungen wurden bemängelt, um ein paar Beispiele zu nennen. Auch, dass die fünf alle Männer sind und keine Frau in der Gruppe ist, wurde kritisiert. „Das hat sich so ergeben, wir haben keine repräsentative Initiative gegründet, sondern sind einfach Freunde“, sagt Radi.


Appell-Anzeige

Für Battermann ist unverständlich, dass manche seiner Bekannten das Papier nicht unterschreiben wollen. Die anderen nehmen es hin. „Es kann verschiedene Gründe haben, nicht zu unterschreiben“, sagt Peter Kock. Eine Frau hatte sich zum Beispiel bei ihnen gemeldet und geäußerte, dass sie Angst habe und Probleme mit dem Arbeitgeber bekäme, wenn ihr Name auf der Liste stehe – auch solche Reaktionen gab es.

Wichtig war den Männern, dass keine Parteien oder Vereine die Liste unterschreiben konnten. „Hinter der Unterschrift soll ein Gesicht stehen, eine Identität, kein Vereinsname“, sagt Radi. Er und seine Freunde hoffen, dass sie durch ihre Aktion positive Geister wecken können. „Demokratie und Freiheit sind offenbar für manche Menschen selbstverständlich geworden, aber die sind schneller weg, als man sie wieder aufbauen kann. Man muss dafür arbeiten“, sagt Battermann. Er und seine Freunde sind aber hoffnungsvoll.

In den sozialen Netzwerken, in denen solche Themen regelmäßig hochkochen, blieb es in der vergangenen Woche auffällig ruhig – jedenfalls dort, wo die MT-Redaktion Einblick hat. Anders bei den fünf Freunden: „Wir werden täglich angerufen und angemailt. Uns fragen die Leute, wie es jetzt weitergeht“, sagt Battermann. Hier hat sich vor allem Christoph Bulmahn schon Gedanken gemacht. „Ich kann mir vorstellen, ein Dialog-Format zu initiieren, in dem Menschen aufeinander treffen und diskutieren“, sagt er. Die genauen Pläne müsse die Gruppe aber erst besprechen. Die größte Frage, die sich den Männer dabei stellen dürfte, ist: Wie erreichen sie die Menschen außerhalb ihres Umfeldes – die, die anders denken?

Von Nadine Schwan, Redaktion Digitale Inhalte

 

One thought on “Aufruf zu Anstand und Vernunft: Eine außergewöhnliche MT-Anzeige und ihre Geschichte

  1. Felden

    Schade, dass ich das nicht wusste, wäre sofort dabei gewesen! Ich hatte schon gedacht Anstand und Vernunft sind ausgestorben, DANKE es war fällig!

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