Vom Dazugehören: Fatma Daldal lebt seit 1974 in Deutschland. So schwer wie heute fand sie es noch nie (#200in365, No.74)

Seit dem 11. September hat sich was verändert: Fatma Daldal kam mit vier Jahren aus der Türkei nach Deutschland. MT-Foto: Alex Lehn

Man ist als Ausländer in Deutschland angekommen, wenn man Deutsch träumt. Das hat mal jemand zu Fatma Daldal gesagt. Bei 90 Prozent Traumdeutsch ist sie schon. Aber gehört sie dazu? So richtig? Lassen die Deutschen es zu? Immer stärker hat die Frau aus Dankersen daran ihre Zweifel. Was sie als sicher wähnte, steht plötzlich zur Debatte. „Die Hoffnung stirbt als Letztes“, sagt sie. Aber ihre Augen schauen fragend durch die Brillengläser. Was kann sie noch erwarten von den Deutschen? Dass der Hass wieder verschwindet, ist ihr Wunsch.

Doch dann erinnert sie sich wieder, wie sie neulich ins Auto stieg, als ein Mann vorbeilief und auf ihr Haus zeigte: „Da wohnen Scheiß-Moslems.“ Und wie sie im Sommer bei geöffnetem Fenster am Schreibtisch saß, als ein Vorbeilaufender rief: „Was glotzt du, Scheiß-Türkin?“ Dass das aufhört, ist ihre Zuversicht. Dass es nicht aufhört, ist ihre Sorge: „Davor habe ich Angst.“

Zum ersten Mal Angst hatte sie als Zweitklässlerin. Sie ging auf eine türkische Grundschule, die es in Enger gab. Als sie eines Tages aus dem Bus stieg, jagten deutsche Jugendliche die türkischen Kinder durch die Straße. Das geschah ein einziges Mal, danach war Ruhe. Mit der Hilfe eines deutschen Freundes der Familie schaffte Daldal den Wechsel auf eine deutsche Grundschule. Eine gute Kindheit, eine gute Jugend, Schulabschluss. 1988 heiratete sie ihren türkischstämmigen Mann und zog nach Minden.

Es könnte alles ganz normal sein. Doch nach dem Anschlag vom 11. September 2001 begann schleichend der Wandel. Anfangs bemerkte es Daldal gar nicht. Es kamen die ersten kleinen Bemerkungen, das erste kleine Misstrauen, diese unterschwelligen Bemerkungen einiger, dass sie ja so richtig nicht dazugehöre. Sie, die mit vier Jahren nach Deutschland gekommen ist und sich an die Türkei erinnert wie an einen verschwommenen Traum. „Alles fängt klein an“, sagt sie. Der 11. September habe viel verändert. Angst stieg auf, Panik vor Terroristen, vor Fremden. Vor viereinhalb Jahren sagte jemand auf offener Straße, sie sei eine „türkische Schlampe“. Die Frau, die schon seit vielen Jahren ausschließlich einen deutschen Pass hat, traute ihren Ohren nicht.

Am schlimmsten findet Daldal die Vorurteile. Türkische Frauen, das sind in den Augen vieler Deutscher jene, die Kopftuch tragen, unfrei sind, ihrem Mann dienen und ansonsten höchstens Erdogan. Ja, es gibt diese Türkinnen. Aber warum nehmen viele Deutsche an, so und nur so gehe es bei den Türkischstämmigen zu? „Ich halte mich und meinen Mann, meine Kinder, unsere ganze Familie für durch und durch integriert“, beteuert Daldal, „wir leben ganz normal, nicht anders als andere deutsche Bürger.“ Doch regelmäßig sagen Deutsche zu ihr, sie spreche aber gut Deutsch und es sei ja erstaunlich, dass ihr Mann sie abends rausgehen lasse. Dann legt Daldal die Stirn in Falten und fragt sich, was die bloß meinen.

Dass sie sich als Deutsche und als Türkin fühlt, damit haben einige Deutsche ein Problem, glaubt sie. „Würde ich sagen, dass ich mich 100 Prozent deutsch fühle, wäre in mir eine Stimme, dass ich meine Wurzeln verleugne“, erklärt sie. Und was genau soll das auch sein – 100-prozentig deutsch? Also fühlt sie sich deutsch und türkisch zugleich. Für sie ist das kein Problem, wohl aber, dass andere ein Problem daraus machen.

Sie bedauert, dass vielen Menschen das Differenzieren schwerfällt. „Lasst uns miteinander reden“, fordert Daldal. Oft fordert sie es vergebens. Und so denken viele Türken, dass die Deutschen Rassisten sind, die Bier lieben und Kartoffeln. Und viele Deutsche, dass die Türken Erdogan lieben und den radikalen Islam. So passiert, dass sich Rechtsextreme befeuern: Der Hass wächst. „Die wollen uns nicht“, denken die Türken. „Die wollen uns was“, denken die Deutschen. „Würden sie doch nur herausfinden aus diesen Gedanken“, denkt Fatma Daldal.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

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