Hohes Alter, großes Herz: Zu Besuch bei Ilse Finkeldey (#200in365, No.2)

Ilse Finkeldey sieht aus wie 75, ist 95 Jahre alt und aktiv wie eh und je. Sie selbst ist kritisch mit sich. Hinzunehmen, dass Dinge sind, wie sie sind, war und ist ihre Sache nicht. Foto: Benjamin Piel

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Es muss eine Mischung aus Vitalität, Lebenswillen und Disziplin sein, die Ilse Finkeldey ein Leben ermöglicht, dessen Schilderung fast ein bisschen unglaubwürdig klingt. Mit ihren annähernd 96 Jahren wohnt sie allein in einer Wohnung ihrer Mindener Gründerzeit-Villa, dem früheren Haus ihrer Großeltern. Wer die Wohnung betrifft, schreitet auf schweren Teppichböden durch eine riesige Etagentür. Auf den Tischen stehen die Bilder wie mit dem Maßband abgemessen, daneben Plüschsessel. Finkeldey lädt zum Kaffee aus Goldrand-Tassen in den Wintergarten. Durch die Scheiben fällt der Blick auf einen kleinen Garten, in dem die Blumen in Reihen stehen, die Archimedes kaum exakter hätte berechnen können. „Darüber haben sich schon einige gewundert“, sagt Finkeldey und lächelt.

Ihr gefällt es wohl, dass andere staunen über sie. Darüber, wie sie das bloß macht: Auf die 100 zuzugehen, aber auszusehen wie 75, alleine zu leben, aber so akkurat eingerichtet, dass es kaum zu steigern ist. Bald geht es mit der Mindener CDU-Seniorenunion, die sie 1987 gegründet hatte, wieder nach Berlin. Nein, Ilse Finkeldey ist nicht irgendeine Teilnehmerin der Exkursion. Sie hat die Fahrt organisiert, hat den Bus gemietet, das Tagesprogramm ausgearbeitet, inklusive Schifffahrt auf der Spree. Eine Überforderung für eine so alte Frau? Unzumutbar? Die Ur-Mindenerin wirkt nicht so, als würden sie ihre Planungen allzu sehr belasten. Bis heute schafft sie es, als Wahlhelferin zu arbeiten.

Dass sie 1996 den Ehrenring der Stadt Minden bekommen hat, hat einiges mit ihrer damals vermutlich noch größeren Vitalität zu tun. Sie hat sich immer für ihre Heimatstadt eingesetzt. Mal hat sie neue Bäume auf einer kahlen Stelle im Fischerglacisgepflanzt, mal Geld gesammelt, um einem damals noch städtischen Altenheim Sitzbänke zu kaufen, ein anderes Mal Sitzgelegenheiten auf Kinderspielplätzen zu finanzieren geholfen. Immer wieder ist sie an Schulen gewesen, um den Schülern aus der deutschen Vergangenheit zu berichten.

Sie kann sich genau daran erinnern, wie am 9. November 1938 die Mindener Synagoge brannte. Wie die Nazis den Rabbi im weißen Nachthemd von einem Rotdorn schlugen, auf den er sich geflüchtet hatte: „Den haben sie totgeprügelt.“ Dass Judenfeindlichkeit wieder salonfähig zu werden droht, schmerzt sie, die einen siebenarmigen Leuchter im Wohnzimmer stehen hat. Vor ein paar Jahren hat sie eine Frau besucht, die meinte, sie schätze keine Menschen, die Judenkult betrieben. Finkeldeys Antwort: Drei Wörter. „Dann gehen Sie!“

Finkeldey ist nur um die 1,50 Meter klein, aber sie steckt vom Scheitel bis zur Sohle voll mit Ideen. Ihr Körper mag geschrumpft sein, acht Zentimeter, erzählt sie. Aber ihr Blick dafür, was notwendig ist, der ist mit den Jahren nicht schwächer geworden. Den Ehrenring – eine Goldfassung mit blauem Siegelstein – trägt sie nur selten. Aber heute hat sie sich ihn über den Finger gestreift. Etwas Besonderes ist er schon. Erst 13 Personen haben ihn innerhalb der vergangenen 54 Jahre bekommen.

Ein Gedanke schmerzt die Seniorin: „Ich bleibe hier über.“ Viele Freundinnen und Freunde, viele Bekannte sind gestorben. „Manchmal gehe ich dreimal die Woche auf Beerdigungen“, beklagt sie. Einen Vorstand für ihre Senioren-Union bekommt sie kaum mehr zusammen, von den ehemals fast 400 Mitgliedern sind keine 60 mehr übrig.

Es wirkt, als könne sich die gelernte Maschinenstrickerin und Kauffrau, die 25 Jahre lang Mitglied des Stadtrats gewesen ist, beliebig an alles erinnern. Finkeldey selbst ist kritisch mit sich: „Ich kann mich schlechter erinnern als früher.“ Ihr Arzt schüttle immer mit dem Kopf und frage: „Was verlangen Sie eigentlich von sich?“ Ilse Finkeldey zuckt mit den Schultern. Ja, was verlangt sie sich selbst eigentlich ab? Wenig gewiss nicht. „Andere Menschen in Freude zu sehen“, sagt sie, das habe sie immer am glücklichsten gemacht. Hinzunehmen, dass die Dinge sind und bleiben müssen, wie sie sind, das war ihre Sache nicht. Das ist es, was sie von sich selbst verlangt.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur

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