Plötzlich ein Twen: MT.de wird 20 Jahre alt. Oder: Warum das Prinzip Lokalzeitung auch im Digitalen eine Zukunft braucht

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Früher war alles übersichtlicher. Etwa so gegen Ende der 70er Jahre. In Minden und Umgebung konnte man drei, vier öffentlich-rechtliche TV- und eine Handvoll UKW-Radioprogramme empfangen. Dem alteingesessenen MT, an dünnen Tagen auch mal nur 16 Schwarzweiß-Seiten stark, machten noch zwei Lokalausgaben der Bielefelder Zeitungshäuser Konkurrenz. Wer wollte, bereicherte sein Medienmenü mit dem Abo einer überregionalen Tageszeitung und dem Kauf von Zeitschriften oder Magazinen. Im Fachhandel. Konservenmusik kam von der Vinyl-Schallplatte oder der Magnetbandkassette, Filme gab’s in den Kinos. Zum Telefonieren drehte man die Wählscheibe an einem fest installierten Apparat. Elektrische Schreibmaschine und Telefax waren Hightech. Über den kürzlich erfundenen PC lachte man sich bei IBM kaputt – keine Ahnung, was die Welt mit so etwas anfangen sollte.

Mit Volldampf in ein ungewisses Experiment

Eineinhalb Jahrzehnte später hatte sich diese Welt gewaltig verändert. Auch beim MT stellte man erste Überlegungen an, wie denn wohl „dieses neue Internet“ (das WWW startete seinen Siegeszug, zunächst in kleinen Schritten, Anfang der 90er) für die Verbreitung lokaler Informationen nutzen könnte. Höfliches Interesse und nachsichtiges Lächeln, bestenfalls, waren den Fantasten gewiss, die ernsthaft schwerfällige Heimcomputer, analoge Modems, langsame Telefonleitungen, komplizierte Einwahlprogramme, umständliche Provider, rudimentäre Browser und mühsam als Hypertext bereitgestellte Zeitungsinhalte für einen zukunftsträchtigen Weg zum Leser hielten. Richtig daran glauben wollte kaum jemand. Wohl wieder so ein BTX-Ding, orakelte man nicht nur in der Zeitungsbranche, die dieses teuer gescheiterte Technologie-Experiment gerade hinter sich hatte.

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In Minden ließ man sich nicht beirren. Und im Februar 1997 ging nach gut eineinhalbjähriger Experimentier- und Planungsphase in der Redaktion tatsächlich „MT-Online“ an den Start, zur Welt gebracht mit Hilfe lokaler Internetpioniere wie Fischer CGD aus Petershagen und ITB in Minden (die es längst nicht mehr gibt). Nicht unerwartet war die Resonanz zunächst verhalten, der noch sehr lückenhaften, wenig leistungsfähigen Netzanbindung ebenso geschuldet wie mangelnder Verbreitung entsprechender Ausrüstung und inhaltlicher Angebote. Auch fehlte es dem größeren Teil des treuen Zeitungspublikums an Fantasie, welches denn wohl die Vorzüge einer digitalen MT-Lektüre sein könnten. Begeistert zeigten sich dagegen Exil-Mindener in aller Welt, für die die Entfernung zur Heimat plötzlich drastisch zusammenschnurrte.

Infrastruktur und inhaltliche Angebote des Internets sollten sich bekanntlich deutlich schneller entwickeln als aus den Erfahrungen früherer Technologieschübe zu erwarten war. Die Nutzung wuchs rasant. Aus einem Schneeball wurde eine Lawine, dann eine Explosion; aus einem Spielzeug für Nerds und Spezialisten entstand ein Massenmedium. Und spätestens seit der Verschmelzung mit der Mobilfunktechnologie und der Erfindung von Smartphone und Tablet ein das Leben (fast) jedes einzelnen Menschen umkrempelnder Alltagsbegleiter.

Selbstverständlicher Teil des lokalen Medienangebots

Heute ist MT.de, wie der Dienst seit 2014 heißt, selbstverständlicher Teil des lokalen Medienangebots. Die Zahl der Nutzer, die sie hier täglich mit Nachrichten aus Heimat und Welt versorgen, hat fast die Zahl der täglich gedruckten Zeitungsexemplare erreicht. Fast 40 Prozent kamen 2016 schon mit Mobilgeräten. Neben MT.de nutzt die Redaktion weitere digitale Kanäle, um nicht nur Texte und Bilder, sondern auch Videos, Tondateien, Downloads, interaktive Grafiken, Multimedia-Reportagen oder digitale Unterhaltungselemente anzubieten. Soziale Netzwerke spielen dabei eine große Rolle: Facebook, Twitter, Instagram, YouTube. Andere, wie StudiVZ oder das eigene Community-Experiment MiC, sind schon wieder Geschichte. Ein Blog “MT Intern“ schafft Transparenz.

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Das Internet ist dabei, sich auch die dingliche Welt einzuverleiben; die Vernetzung wird von Armbanduhr und Auto bis Kühlschrank und Waschmaschine allumfassend. Das Smartphone spielt die zentrale Rolle – und in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine inzwischen unersetzliche. Das Netz ist – auch – lokal: Jeder kann jeden erreichen, neben den klassischen Medien buhlen vielfältige Akteure um Aufmerksamkeit. Ihre Bühne sind Homepages und Blogs, vor allem aber die Netzwerke, allen voran Facebook. Ein permanentes digitales Informationsgewitter produziert unablässig Nachrichten, Meinungen, Reaktionen. Auch Gerüchte. Oder einfach nur Erfundenes. Fakten oder Fakes? Das muss der Konsument schon alleine auseinanderhalten können.

Journalismus übernimmt Verantwortung – auch im Netz

In diesem Umfeld muss sich eine Heimatzeitung wie das MT zwangsläufig neu sortieren. Der vertraute, zuverlässig seriöse und gut vernetzte Lieferant lokaler Nachrichten steht nicht nur im Zugzwang, seine Dienstleistung auf immer mehr Kanälen organisieren zu müssen – er muss angesichts kritischer Fragen an seine Qualitätsmaßstäbe und sein Selbstverständnis auch ständig seine Existenzberechtigung neu verhandeln. Keine einfache Sache, wenn parallel das alte Geschäftsmodell der Mischfinanzierung aus Vertriebs- und Anzeigenerlösen durch Medienwandel und demografische Entwicklung massiv in Frage gestellt wird.

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Dass Journalismus gebraucht wird, steht – siehe oben – außer Frage. Die Herausforderung ist, ihm auch auf dem digitalen Spielfeld einen überzeugenden Nutzungsrahmen zu verschaffen. Journalismus ist eben mehr als das flotte Verbreiten von Irgendetwas. Journalismus übernimmt, auch im Netz, Verantwortung für seine Absenderschaft, steht für seine Inhalte ein. Vor allem hat er eine gesellschaftliche Aufgabe: die demokatische Bürgergesellschaft funktioniert nur mit verlässlichen und, ja, unabhängigen Informationen, auf deren Basis sich jeder seine eigene Meinung bilden kann. Diese Informationen nicht nur zusammenzutragen, sondern im Zweifel auch zu recherchieren, Sachverhalte zu erläutern und in Zusammenhänge zu stellen, nachzufragen und zu kommentieren – all das erfordert mehr als einen Internetzugang und eine Plattform zum Hochladen von Inhalten: Es erfordert Ausbildung, Professionalität, eine Organisation. Nicht zuletzt ein Selbstverständnis, das auch eigenes Wirken offen zur Diskussion stellt.

MT.de ist die Fortsetzung des journalistischen Mediums Heimatzeitung mit den zu Beginn des 21. Jahrhunderts technisch gebotenen und gesellschaftlich erforderlichen Mitteln. Ob es die gedruckte Ausgabe irgendwann ganz ablösen oder sich parallel in einer eigenen Evolutionslinie weiterentwickelt, wer weiß? Mit 20 Jahren ist man im Internet zwar schon ganz schön alt – im wirklichen Leben aber gerade erst erwachsen geworden.

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