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Willkommen und Abschied – Svenja Ottos Sohn Constantin starb nach acht Monaten im Bauch seiner Mutter. Für die Mindenerin ist das der Grund, anderen Frauen zu helfen (#200in365, No.117)

Svenja Otto leitet die Gruppe Sternenkinder Minden. Die trifft sich einmal imMonatim Gemeindehaus in Südhemmern. MT-Foto: Benjamin Piel

Plötzlich waren die Herztöne weg. Constantin war im Bauch seiner Mutter gestorben. Vier Wochen vor dem Geburtstermin. Im August ist es drei Jahre her. Wenn Svenja Otto daran zurückdenkt, dann erinnert sie sich vor allem an eines: den totalen Kontrollverlust. Dass alles stehen zu bleiben schien. „Warum ich? Warum jetzt? Warum mein Kind? Habe ich etwas falsch gemacht?“ Diese Fragen hämmerten in ihrem Kopf.

Sie wurde durch das Krankenhaus geschoben. Sie wurde über Gänge gerollt, durch Türen und Schleusen zur Not-Operation. Sie musste Constantin zur Welt bringen, das plötzlich tote Kind. Und dann lag es auf ihrem Bauch, so klein und doch so komplett. Das Baby, für das alles bereit lag zu Hause, die Kleidung und die Windeln, die es nun nie tragen würde. Constantin war tot und Svenja Otto wusste kaum, was ihr geschehen war.

Es dauerte Monate, um das Erlebnis zu verarbeiten. Ein Jahr konnte die Lehrerin nicht arbeiten. „Ich bringe das Baby auch mal mit“, hatte sie ihren Schülern versprochen. Wie sollte sie denen erklären, was passiert war? Als sie zwölf Monate später vor ihnen stand, sprach sie es einfach aus und die Schüler reagierten mitfühlend. Sie erzählten von ähnlichen Fällen in ihren eigenen Familien und diese Gespräche hat Otto in guter Erinnerung. „Es ist viel passiert in Deutschland“, sagt sie. Worüber man früher gar nicht habe reden können, darüber seinen nun Gespräche möglich und es gebe Hilfsangebote.

Auf dem Nordfriedhof legte sie Constantin zur Ruhe, auf dem Sternenhimmel, einem Gräberfeld für Kinder. „Es ist gut, einen Ort zum Trauern zu haben“, findet sie. Über den Hospizkreis kam sie zur Gruppe Sternenkinder Minden, ein Gesprächskreis für Eltern. Die unterstützen sich gegenseitig, hören sich zu, finden Vertrauen und Nähe zueinander, sprechen sich Trost zu: „Du hast nichts falsch gemacht.“ Die Mindenerin ist sich sicher: „Ohne die Gruppe hätte ich nicht gewusst, wie es weitergehen soll.“

Auf dem Nordfriedhof gibt es ein Grabfeld für still geborene Babys und gestorbene Kinder. Das Kunstwerk „Sternenhimmel“ schufen Korbinian Stöckle und Heiko Schulze von der Glashütte Gernheim. MT-Foto: Alex Lehn (Archiv)

Ihre eigenen Erfahrungen sind für die 41-Jährige die Motivation, anderen Eltern in dieser Situation zu helfen. Seit einem Jahr leitet sie die Gruppe, die ihres Wissens die einzige in der Region ist. Zusammen mit ihrem Mann hat sie einen Handzettel und eine Internetseite entworfen, um auf die Gruppe aufmerksam zu machen. Einmal im Monat treffen sich sechs Mütter und ein Ehepaar im Gemeindehaus Südhemmern. Das ist schon seit 15 Jahren der Treffpunkt der Gruppe, weil deren Gründerin aus der Gegend kam.

Dann setzen sich die Eltern an einen Tisch. Auf der Decke haben sie in bunten Farben die Namen der verstorbenen Kinder geschrieben. „Draußen“, sagt Svenja Otto, „haben die, die hier sind, nicht die Möglichkeit zu sprechen.“ Die meisten wollen die anderen nicht belasten. Und wer, der es nicht selbst erlebt hat, kann schon verstehen, wie das ist, wenn ein Kind vor der Geburt stirbt? „Draußen“, sagt Svenja Otto, „geht das Leben weiter – und das ist ja auch gut so.“ Aber das, was einige da draußen sagen, tut weh. „Es hat ja noch gar nicht gelebt“, hat mal jemand zu ihr gesagt. Aber hatte sie denn nicht den Herzschlag auf dem Monitor gesehen? Hatte sie nicht die Bewegungen in ihrem Bauch gespürt?

Acht Monate lang hat Constantin im Bauch seiner Mutter gelebt. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht an ihn denkt. Zu Ostern und Weihnachten kommt die ganze Trauer wieder hoch. Aber je mehr Zeit vergeht, desto dankbarer kann sie sein für die kurze Zeit mit ihrem bisher einzigen Kind. Für Constantin, dessen Leben kaum angefangen hatte, bevor es zu Ende ging.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur