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Die Stimme des Asphalts – Früher war er irgendjemand, der in der Bäckerstraße eine Obdachlosen-Zeitung verkaufte. Jetzt gehört Hans Lewandowski dazu. Bald hat er seine erste Lesung (#200in365, No.94)

Hans Lewandowski ist jemand, dessen Gesicht viele Mindener kennen. MT-Foto: Alex Lehn

Hans Lewandowski ist angekommen. Wo Bäcker- und Poststraße sich kreuzen, da ist das, was er Mindens Kraftort nennt. Da ist viel Bewegung und viel Bewegung, die braucht er. Der Mann mit der Baskenmütze und der tiefen Stimme verkauft das Asphalt-Magazin. 2,20 Euro das Stück.

Die Tage sind so verschieden wie das Wetter. Mal verkauft er drei Exemplare in zehn Minuten, mal den ganzen Tag kein einziges. Aber Lewandowski hat sich vorgenommen, die Tage zu nehmen, wie sie kommen. Aus dem, was ihm begegnet, will er etwas machen. Wenn es regnet, will er dankbar sein für den Regen, wenn die Sonne scheint, für den Sonnenschein. Und wenn niemand ihm eine Zeitschrift abkauft, nun ja, dann war es zwar nicht der beste Tag, aber auch an den schlechtesten begegnet er Menschen und ist dankbar für die Gespräche.

Dankbarkeit. Das ist ein überraschendes Schlüsselwort im Leben eines Menschen, der auf den ersten Blick wenig hat, für das er dankbar sein könnte. Immerhin: Eine Wohnung hat der Mann von 60 Jahren, nachdem er immer wieder auf der Straße gelebt hatte. Anderen etwas geben zu können, dieses Gefühl war ihm abhanden gekommen, bevor er nach Minden kam und die Idee hatte, in der Fußgängerzone das Magazin zu verkaufen. Statt jemand zu sein, der anderen etwas andrehen will, was die gar nicht haben wollen, ist der gebürtige Rheinländer jemand, der jedem etwas mitgibt. Mal ist es ein Kompliment, mal hört er ein paar Sätze lang zu.

Wer mit Lewandowski die Bäckerstraße entlangläuft, der stellt etwas Verblüffendes fest. Dieser Mann mit dem grauen Vollbart bringt andere zum Lachen, zum Reden, zum Stehenbleiben. Hätte die Stadt ihm den Auftrag erteilt, die Laune der Flanierenden zu verbessern, könnte man nur schwerlich zu einem anderen Urteil kommen als dem, dass er einen guten Job macht. Aber eigentlich ist Lewandowski nur ein Mann, der seit drei Jahren eine Obdachlosen-Zeitung verkauft. Niemand hat ihm die Aufgabe gegeben, die er nun so freundlich erfüllt. Oder wie er es ausdrückt: „Für viele Menschen, die alleine sind, bin ich so etwas wie ein Austauschpartner.“ Lewandowski hat auf alles eine Antwort. Wer ihn fragt, wie er geworden ist, was er ist, dem sagt er, dass doch nichts langweiliger sei als ein Mensch, von dem man alles wisse. Und wahrscheinlich weiß er selbst nicht mehr alles, denn der Alkohol spielte eine nicht unerhebliche Rolle in seinem Leben. Früher war das, als er abgestürzt war, auf der Straße lebte, mit Rucksack umherzog.

Eines Tages schlug er in Minden auf und verliebte sich in die Stadt, in die Landschaft. „Man kann hier verdammt weit gucken“, sagt er und das ist einem, der sich schnell eingeengt fühlt, vielleicht erstmal das Wichtigste. Seit ein paar Jahren will er nicht mehr weg. Er fühlt, was ihm vorher so oft gefehlt hatte: einen Platz zu haben. Wie hat er das geschafft? „Ich nehme mich nicht mehr so wichtig und habe aufgehört, mich zu bemitleiden.“ Mit dem ewigen Selbstmitleid, meint er, habe er sich oft in die Verliererposition manövriert. Nein, es ist auch heute nicht alles leicht. Das Haus, in dem er eine Wohnung gemietet hat, sei verkauft worden, er weiß noch nicht, wie das weitergeht. Aber irgendwie wird es schon gehen.

Dass er bald auf dem Weihnachtsmarkt lesen wird, freut ihn. Er hat keine Scheu. Auf seine Bassstimme, für die er oft Komplimente bekommt, kann er sich schließlich verlassen. „Manche sehen in mir einen Tagesschausprecher“, sagt Lewandowski. Dazu wird es nicht mehr reichen. Aber vielleicht zu etwas Anderem. „Was soll das Leben mir schon noch bringen?“, diese Frage stand lange über seinem Leben. Eine Frage ist geblieben, die ähnlich klingt, aber eine voller Neugierde ist: „Was wird mir das Leben wohl noch alles bringen?“

Lewandowski liest Donnerstag, 20. Dezember, ab 17 Uhr in der Tanne auf dem Mindener Weihnachtsmarkt. Er trägt aus dem Buch „Kein Dach über dem Leben“ von Richard Brox vor, der 30 Jahre lang auf der Straße gelebt hat. Außerdem erzählt Lewandowski Geschichten aus seinem eigenen Leben.

Das Asphalt-Magazin ist ein soziales Zeitungsprojekt aus Niedersachsen, das bereits im Jahr 1994 gegründet worden ist. Eigentlich wird das Heft mit einer Auflage von 27.000 Exemplaren nur in 15 niedersächsischen Städten wie Hannover, Hildesheim oder Oldenburg verkauft. Hans Lewandowski in Minden ist eine Ausnahme.

Eine gemeinnützige GmbH, die sich selbst größtenteils aus Spenden finanziert, fungiert als Herausgeber, das Diakonische Werk Hannover und der Verein Hannoversche Initiative für obdachloser Bürger (Hiob) sind Gesellschafter.

Elf professionelle Journalisten und Autoren produzieren die Inhalte des Magazins. Ziel ist, dass Bedürftige sich etwas dazu verdienen, ohne zu betteln. Die Straßenverkäufer beziehen das Magazin für 1,10 Euro pro Exemplar bei der gGmbH und dürfen es für 2,20 Euro verkaufen. Die Differenz von 1,10 Euro bleibt bei den Verkäufern.

Hans Lewandowski bezieht und verkauft pro Monat 90 Exemplare. Verkauft er alle, bleiben ihm 100 Euro. Das ist eine wichtige Grenze für ihn, denn mehr darf er abzugsfrei nicht zu seinen Hartz-IV-Leistungen hinzuverdienen.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur