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Die Freiheit der Glatze – Antje Ranis sind als Kind alle Haare ausgefallen. Vor sieben Jahren hat sich die Mindenerin entschieden, keine Perücke mehr zu tragen. Das hat ihr Leben verändert (#200in365, No.80)

Seit sie neun Jahre alt ist, hat Antje Ranis eine Glatze. Lange trug sie Perücke – doch inzwischen
nicht mehr. Obwohl ihr die Reaktionen darauf immer noch zu schaffen machen. MTFoto: Alex Lehn

Morgens schaut das Mädchen auf ihr Kissen. Und da liegen sie wieder, ihre Haare, büschelweise ausgefallen. Die Fünfjährige streicht sich durchs Haar und blickt auf ihre Hände: Strähnen hängen an ihren Fingern. Wie schnell ihre Haare ausfielen, daran kann Antje Ranis sich 47 Jahre später nicht mehr genau erinnern. An eine Zeit voller Verunsicherung schon.

Eines Tages hatte sie kein einziges Haar mehr auf dem Kopf, keine Augenbrauen, keine Wimpern. Allzu lange kann es wohl nicht gedauert haben, bis aus dem vollen Haar eine Glatze geworden war. Den Namen der Krankheit hatten die Ärzte schnell parat: Alopecia areata totalis – Kreisrunder Haarausfall, der zum kompletten Haarverlust führt. Doch die Ursache kennt bis heute kein Mediziner, einen Weg zur Heilung schon gar nicht. Trotzdem muss das Kind eine Odyssee von Klinik zu Klinik über sich ergehen lassen. Man beschmiert ihren Schädel gleich in mehreren Unikliniken mit Salben und Tinkturen. Nichts hilft. Einmal verbrennt ein Medikament ihre Kopfhaut.

Wie sehr hat der Mindenerin das alles gereicht. Immer das Versuchskaninchen zu sein, an dem herumgedoktert wird. Immer dieses Mädchen sein zu müssen, das das alles über sich ergehen lässt, während andere versuchten, sie gesellschaftstauglich zu machen, ansehnlich für andere. Denn war das nicht immer das größte Problem gewesen: eine Zumutung für Dritte zu sein, die ihren Anblick einfach nicht ertragen konnten? Selbst ihre Eltern gehörten zu diesen Dritten. Sie taten alles, um die Haare wieder zum Wachsen zu bekommen. Doch in der Rückschau wäre es Ranis lieber gewesen, sie hätten ihr das Gefühl gegeben, auch ohne ein einziges Haar vollständig zu sein. Rückhalt, den hätte sich das Mädchen gewünscht. Stattdessen hatte sie immer das Gefühl, wenig Rückendeckung zu haben. Da war niemand, der zu ihr sagte: Du bist ok, so wie du bist – ein Mädchen ohne Haare, na und, was ändert das schon? Heute gäbe es vielleicht eine psychologische Begleitung, damals gab es nichts.

Zuerst trug sie ein Kopftuch, später war sie in der Schule „das Mädchen mit der Perücke“. Heute noch, wenn sie jemanden von damals trifft, kommt diese Frage: „Bist du nicht das Mädchen mit der Perücke?“ Und manchmal sagt Antje Ranis dann einfach: „Tut mir leid, sie müssen mich verwechseln.“ Sie kann es nicht mehr hören.
Warum reduzieren andere sie so oft ausgerechnet auf das, was ihr fehlt?

Zu einem hat sie das alles gemacht: zu einer Kämpferin, die sich nicht unterkriegen lässt, die manchmal ein bisschen hart wirkt, aber selbstbewusst. Entscheidend dafür war dieser eine Schritt vor sieben Jahren: die Perücke für immer abzunehmen und stattdessen zur Glatze zu stehen. Es war ein langer Weg – von der Überzeugung, diesen Anblick niemandem zumuten zu können, zu der Haltung, dass es keinen Grund gibt, die Wahrheit zu verstecken. „Ab 40 habe ich immer mehr den Gedanken zugelassen, wie sehr mich die Perücke stört“, erinnert sich Ranis. Immer dieser leichte Druck auf dem Kopf, die Hitze, der Schweiß, dauernd dieses Gefühl, dass die Perücke gleich verrutschen und ein peinlicher Moment entstehen könnte. Sie fühlte sich zunehmend unfrei mit ihren künstlichen Haaren. Schließlich entschloss sie sich, die Perücke nicht mehr zu tragen. Ihre fünf Kinder fanden die Entscheidung gut, nur der erste Tag bei der Arbeit in der Volkshochschule war hart. „Alle dachten, ich sei an Krebs erkrankt“, erinnert sich die 52-Jährige. Als sie diesen Tag überstanden hatte, wurde es leichter.

Inzwischen denkt sie weniger stark an ihre Glatze, wenn sie in Minden unterwegs ist: „In meinem normalen Leben mache ich mir darüber keine großen Gedanken.“ Wenn sie aber irgendwo ist, wo niemand sie kennt, dann baut sich manchmal wieder diese Schranke im Kopf auf, dieses Gefühl, nicht komplett zu sein. Und dann ärgert es sie wieder: dass Männer mit Glatze als dominant und männlich gelten, Frauen dagegen in der ChemoSchublade laden. Ob es auch deshalb so schwer für Frauen mit Glatze ist, einen Mann kennenzulernen? „Männer haben Angst“, das ist zumindest Antje Ranis’ Eindruck, „eine Frau mit Glatze geht für die meisten nicht.“ Viele wirken wie sprachlos, wenn sie ihr begegnen.

Ihre Perücke hat sie noch und manchmal setzt sie sie auf und schaut in den Spiegel. Aber diese Frau mit Perücke, das ist sie nicht mehr. Wenn sie zwei Wünsche frei hätte, dann wüsste Antje Ranis genau, was sie sich wünschen würde. Zuerst, dass Frauen ohne Haare endlich akzeptiert würden. Und dann: volles Haar!

Von Benjamin Piel, Chefredakteur