Daily Archives: 19. November 2018

Die meisten sexuellen Übergriffe finden dort statt, wo Frauen am sichersten sein sollten. Die Beratungsstelle Wildwasser weiß, was Opfer sexueller Gewalt am nötigsten brauchen (#200in365, No. 77)

Vereinsvorsitzende Christiane Böke (rechts) und Traumafachberaterin Angela Gräper helfen
Mädchen und Frauen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben. MT-Foto: Benjamin Piel

Der Fremde auf der Straße, der einer Frau das Messer an die Kehle hält, sie ins Gebüsch zerrt, sie vergewaltigt. Das ist eine der grausamsten Vorstellungen. Diese Fälle gibt es zwar, sie sind aber Ausnahmen. Das sagen die Frauen von der Mindener Beratungsstelle Wildwasser. Und die müssen es wissen, denn sie beraten Frauen und Mädchen ab 14 Jahren, die Missbrauch und sexualisierte Gewalt erlebt haben. Im vergangenen Jahr waren es 114 Klientinnen. Der fremde Täter im Gebüsch ist bei der Arbeit der Vereinsvorsitzenden Christiane Böke und Traumafachberaterin Angela Gräper selten ein Thema. Wohl aber Ehemänner, Freunde, Väter, Onkel, Bekannte.

Vergewaltigungen sind ein großes Thema in der Öffentlichkeit. Es gibt eine große Angst vor Übergriffen durch Fremde.

Angela Gräper: Wir erleben in unserer Arbeit, dass es meistens eben nicht der Fremde ist, sondern der Freund, der Bekannte, Familienmitglieder — Männer aus dem Nahbereich der Frauen. K.o.-Tropfen sind zunehmend ein Thema. Wir hatten fünf Fälle allein in den zurückliegenden acht Monaten. Allerdings sind die Täter auch in diesen Fällen meistens keine Fremden.

Wie hilfreich war die Me-too-Debatte für Sie?

Christiane Böke: Wenn über das Thema gesprochen wird und Opfer ihr Schweigen brechen, ist das gut. Die Gefahr ist, dass ein medialer Hype entsteht und danach ein Loch kommt, als wäre das Thema verschwunden, obwohl es in Wahrheit weiterhin existiert.

Zu der Zeit, als die Beratungsstelle entstanden ist, konnte von Me-too keine Rede sein. Wie war das damals?

Böke: Das war vor 29 Jahren. 15 Frauen fanden sich zusammen, weil ihnen klar war, dass das Thema Missbrauch ein großes ist, über das aber nicht groß geredet wurde. Ganz im Gegenteil: Das wurde damals totgeschwiegen. „So etwas gibt es doch nicht in der Mittelschicht – und in der Oberschicht schon gar nicht“, hieß es damals. Dass sich dieses Thema durch alle Schichten zieht, war damals unvorstellbar. Uns ging es zuerst einmal um Enttabuisierung. Wir haben eine Ausstellung konzipiert, die dann bundesweit zu sehen war. Außerdem wollten wir Mädchen und Frauen einen Raum geben, ihre Geschichte erzählen zu können. So ging es los und Stück um Stück weiter.

Und dann?

Böke: Wir haben angefangen, unbezahlt zu arbeiten. Einfach angefangen. Niemand von uns hätte gedacht, dass das daraus werden könnte, was es heute ist, niemals. Vor allem auch, weil wir viel Gegenwind hatten, durchaus auch Anfeindungen. „So was brauchen wir hier doch nicht“, sagten viele. Nach dem Motto: Wo es keine Beratungsstelle gibt, da gibt es auch kein Problem. Die Zeiten, in denen das so gesehen wurde, sind zum Glück längst vorbei.

Warum eigentlich der Name Wildwasser?

Gräper: Im wilden Wasser, in dem sich die Mädchen und Frauen durch das, was sie erlebt haben, befinden, wollen wir eine Insel für sie sein.

Was macht diese Insel besonders?

Böke: Wenn jemand zu uns kommt, dann zweifeln wir nicht daran, dass uns die Mädchen und Frauen eine Geschichte erzählen, die stimmt. Das ist ganz wichtig für die Betroffenen, dass ihnen endlich jemand glaubt. Vertrauen aufzubauen, das ist ganz wichtig. Die Betroffenen haben einen Kontrollverlust erlitten, deshalb braucht es eine radikale Parteilichkeit in ihrem Sinne. Und dann geht es nicht vorrangig darum, das Geschehene zu erzählen und in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Folgen.

Gräper: Im Kern geht es um drei Dinge: Stabilisierung, Stabilisierung, Stabilisierung. Die Beratung ist nicht die kleine Schwester der Therapie. Wir möchten mit den Frauen diesen Weg gehen. Unser Ansatz ist nicht, die Familie und das ganze System in den Blick zu nehmen, sondern wir schauen ganz intensiv nach der Situation unserer Klientinnen. Bei uns muss niemand etwas bezahlen.

Was raten Sie Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben?

Gräper: Ruhe bewahren, sich vernetzen, sich mit anderen verbünden, sich Hilfe suchen. Wir schauen mit den Frauen und Mädchen dann mit Ruhe und Zeit auf die Situation, begleiten sie, damit sie ihren Weg finden. Wichtig ist, dass nichts über ihren Kopf hinweg passiert. Dass zu einem für die Frauen falschen Zeitpunkt beispielsweise eine juristische Aufarbeitung beginnt, kann ein falscher Weg sein, wenn die Frauen dafür noch gar nicht bereit und stabil sind.

Ist die Finanzierung eines solchen Projekts ein Problem?

Böke: Wir würden uns wünschen, bei der Förderung für die inzwischen vier halben Stellen kein Wackelkandidat mehr zu sein und uns nicht immer fragen zu müssen, ob es in zwei Jahren weitergeht oder nicht. Wir würden gerne nicht mehr so viel über Geld nachdenken müssen. Alle stellen sich groß hin und sagen, wie wichtig das Thema ist. Aber wenn es um Geld geht, müssen wir uns noch immer rechtfertigen. Das wollen wir nicht mehr.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur