Daily Archives: 14. August 2016

Immer wieder zu Olympia: Was sagt uns der Medaillenspiegel?

Medaillenspiegel in Echtzeit, dazu Einzelübersichten für Nationen und alle Sportarten - auf MT.de erhält der Statistikfreund, was das Herz begehrt. Repro: MT

Medaillenspiegel in Echtzeit, dazu Einzelübersichten für Nationen und alle Sportarten – auf MT.de erhält der Statistikfreund, was das Herz begehrt. Repro: MT

Täglich berichtet die Sportredaktion auf mehreren Seiten der gedruckten Ausgabe über das olympische Geschehen in Rio. Auf einen Medaillenspiegel verzichtet sie dabei – im Gegensatz zum Olympia-Special auf MT.de – diesmal bewusst: er wäre wegen des noch weit über Redaktionsschluss hinausreichenden sportlichen Geschehens jenseits des Atlantiks am Frühstückstisch das Papier nicht mehr wert, auf dem er gedruckt würde. Lediglich am Samstag wird ein Zwischenstand präsentiert.

Online ist da besser dran, hier wird der Spiegel in Echtzeit nachgehalten, auch dann noch, wenn hier in Minden längst die Druckmaschinen laufen, während in Rio noch um Edelmedall gerungen wird. Und da Online nun mal weniger Platzprobleme hat, gibt es hier auch gleich noch Einzelübersichten für Nationen sowie alle Sportarten dazu.

Kein Zweifel, das Leserbedürfnis nach dem Medaillenspiegel ist da, das zeigen die Nachfragen. Worüber aber genau gibt diese Statistik über die nach Nationen aufgelistete Gold-, Silber- und Bronzeverteilung eigentlich genau Aufschluss? MT-Sportchef Marcus Riechmann hat sich für die Samstagausgabe mal ein paar Gedanken dazu gemacht und sie in einem Kommentar aufgeschrieben:

 

Muster ohne Wert

Von Marcus Riechmann

Die deutschen Sportler stehen unter Druck. Gäbe es nicht Reiter, Ruderer oder Schützen stünden die Olympioniken im Medaillenspiegel etwa auf einem Level mit Aruba, Andorra oder Bangladesch. Das Urteil der Sportfans in der Heimat wäre in diesem Fall verächtlich – und war es ja bis Mittwoch auch: Verlierer. Jaja, der Medaillenspiegel. Barometer der Leistungsfähigkeit nicht nur der Sportler sondern der Nation.

So gesehen hat der Gold-Donnerstag dem nationalen Selbstbild gut getan. Deutschland liegt nun im Rio-Ranking eingerahmt von Großbritannien und Italien. Nicht ganz Top-Drei, aber immerhin. Oder? Okay, sind wir ehrlich: Eigentlich ein bisschen dünn.

MT-Sportchef Marcus Riechmann. Foto: Lehn

MT-Sportchef Marcus Riechmann. Foto: Lehn

Dieses Empfinden darf man erden: Man misst den Sport von heute an dem von gestern. Orientierung bieten jene Zeiten, als Ost- und West den Leistungswettstreit der Systeme stellvertretend auf dem Sportplatz austrugen. Damals war Sport eine nationale Mission, die Teams aus BRD und DDR bildeten zusammengerechnet die Weltspitze. Doch das ist lang vorbei, die güldnen Früchte der Systemkampf-Ära sind verspeist.

Markus Deibler, als Schwimmer Teil einer besonders kritisierten weil medaillenlosen Sparte, hat eine zentrale Komponente des deutschen Dilemmas recht pointiert zum Ausdruck gebracht. „In einem Land, in dem ein Olympiasieger 20 000 Euro Prämie bekommt und ein Dschungelkönig 150 000 Euro, sollte sich niemand über fehlende Medaillen wundern“, wird er zitiert. Touché.

Nun sind weniger die mickrigen Gold-Prämien das Problem, die Förderung ist es insgesamt. Um die ist es in Deutschland nämlich schlecht bestellt. Hier sonnt sich die Nation zwar gern im Glanze des Erfolgs, doch die Zeche zahlt der Athlet allein. Wer sich für den Spitzensport entscheidet, wählt eine Zukunft mit finanziellen Risiko.

Die gesellschaftliche Bewertung hat sich verschoben. Sport wird selbst im Leistungssport als individuelle Freizeitgestaltung begriffen, die man gern begleitet, aber nicht bezahlt. Doch dann darf man nicht Medaillen fordern und den Sportler an den Siegen messen. Aber exakt das passiert: In Deutschland orientiert sich die Förderung der Verbände am Erfolg. Wer nicht liefert, erhält weniger Geld. So generiert man eine Abwärtsspirale.

In anderen Ländern wird Sport als nationale Aufgabe und Mittel staatlicher Inszenierung begriffen, Stützpunkte werden umfassend gefördert und Sportarten massiv vorangetrieben. Im Zweifel auch mit unerlaubten Mitteln.

Das kann man ablehnen oder begrüßen. Man muss sich seiner Haltung nur bewusst sein. Nur Zyniker fordern beides: Sauber sollen sie sein, unsere Athleten. Und gewinnen sollen sie. Wie soll das gleichzeitig funktionieren? Verstrickt in diesen Widerspruch von Leistung und Moral ist die Länderwertung nichts als ein Muster ohne Wert.

Trotz all dem besteht ein Ur-Bedürfnis nach einem Medaillenspiegel, den wir heute zur olympischen Halbzeit publizieren. Man darf ihn betrachten. Doch man muss sich eine Frage ehrlich beantworten: Was soll mir die Tabelle sagen?