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„Sonst landen wir in einer Katastrophe“ – Beate Oberschür ist Inhaberin eines Mindener Pflegedienstes und verzweifelt am deutschen Gesundheitssystem. Sie glaubt, dass es einen radikalen Schnitt braucht (#200in365, No.90)

Beate Oberschür fordert mehr gesetzliche Unterstützung für ambulante Pflegedienste. Foto: David Hecker/dpa

Beate Oberschür ist gewiss die Letzte, die vorschnell aufgeben würde. Das liegt der gebürtigen Bayerin nicht. Vor zehn Jahren hatte die damalige leitende Mitarbeiterin eines Wohlfahrtsverbandes Lust auf eine Veränderung und gründete ihren Pflegedienst, der unter anderem Betreuungskräfte aus Osteuropa vermittelt. Spätestens seit dieser Zeit sieht sie ihre Branche zunehmend in Gefahr. Auch die neueste Reform schaffe mehr Probleme als Lösungen. Dabei hätte die Mindenerin durchaus Vorschläge, wie es besser gehen könnte.

Sie vermitteln unter anderem Pflegekräfte aus Osteuropa. Es gibt Menschen, die darüber die Nase rümpfen.

Das mag sein, aber wir schaffen hier Arbeitsplätze für Männer und Frauen aus Osteuropa. Was nicht sein kann, ist, dass Schätzungen zufolge bis zu 800.000 ausländische Pflegekräfte illegal in Deutschland arbeiten. Das höhlt die sozialen Systeme in Deutschland aus und führt in Osteuropa zu eklatanter Altersarmut. Doch auch diese Menschen halten für uns in Deutschland unser ambulantes Versorgungssystem seit mehr als 30 Jahren aufrecht. Wenn diese Karawane weiterziehen würde, dann hätten wir in Deutschland ein fettes Problem.

Woran liegt das?

Weil seit Jahrzehnten am Gesundheitssystem herumgedoktert wird, aber niemand sich traut, die notwendigen Schritte zu gehen. Ein Beispiel dafür ist das neue Pflegepersonal-Stärkungsgesetz. Ab 2019 gilt: Um die Personalausstattung in der Pflege im Krankenhaus zu verbessern, wird jede zusätzliche Pflegestelle am Bett vollständig von den Kostenträgern refinanziert. So werden 13.000 zusätzliche Stellen in der stationären Altenpflege geschaffen. Das führt zu einer völligen Schieflage in der ambulanten Versorgung. Denn dann bekommen Kliniken die Personalstellen ganz und stationäre Einrichtungen ihre Stellen teilweise über die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung refinanziert. Das ist eine Oberfrechheit, da müsste man eigentlich jede Woche auf die Straße gehen. Auch weil sich im Gesetz auf zwölf Seiten ein einziger Satz an den ambulanten Pflegebereich richtet.

Ok, das sagen Sie als Inhaberin eines Pflegedienstes, klar.

Nein, so einfach ist das nicht. Es gibt immer mehr Altenheime, dabei wollen 80 Prozent aller Menschen genau dort nicht hin. Die möchten Zuhause alt werden und sterben. „Ambulant vor stationär“, das steht im Pflegeversicherungsgesetz seit 1993. Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz wird aber dazu führen, dass die ambulante Pflege personell ausgehöhlt wird, weil Mitarbeiter in den stationären Bereich abwandern. Und es macht deutlich, was die Angehörigen, die zu Hunderttausenden zu Hause ihre Menschen versorgen und auf ambulante Pflegedienste angewiesen sind, der Politik bedeuten.

Darüber darf sich ein Billiglohn-Sektor wie Ihrer auch nicht wundern, oder?

Wir sind ja kein Billiglohnsektor. So gut wie alle Pflegedienste zahlen übertariflich, weil wir sonst gar keine Kräfte bekämen. Die Pflege immer pauschal in den Billiglohnsektor zu verschieben, stimmt erstens nicht und macht zweitens eine ganze Branche unattraktiv. Ich halte das für gefährlich.

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren?

Wir brauchen eine grundlegende Reformierung der Pflegeversicherung. Im ambulanten Bereich müsste Schluss sein mit den Leistungskomplexen, hin zu stundenweiser Versorgung. Es bräuchte ein Pflegebudget nach Pflegegrad und Art der Unterstützung. Jeder Kunde müsste selbst bestimmen können, was er mit diesem Geld machen will, um sich versorgt zu fühlen. Wenn es Pflege heutzutage schafft, einen Patienten von Pflegegrad drei auf zwei zu bekommen, dann ist das ein toller Erfolg, der belohnt werden müsste, weil es dem Patienten ja besser geht. Tatsächlich kommt der Geschäftsführer und sagt: „Wenn ihr so gut weiterarbeitet, dann können wir dichtmachen.“ Je mehr die Pflege erreicht, desto schneller ist der Pflegegrad und sind damit die Zuwendungen weg. Ist das nicht irrsinnig? Länder wie Dänemark oder die Niederlande schaffen es viel besser. Dort stärkt man die ambulante Versorgung und ist von der stationären Fokussierung weggekommen. In Deutschland ist es genau andersherum.

Das klingt aber nach einer ziemlichen Fokussierung auf die ambulante Pflege.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir brauchen im Rahmen der demografischen Entwicklung alle Hilfesysteme. Aber es muss möglich sein, dass der Betroffene frei entscheiden kann. Wir haben heute schon die Situation, auch in Minden-Lübbecke, dass die ambulanten Pflegedienste keine Kapazitäten mehr haben und Pflegen absagen müssen.

Warum stellt niemand das gesamte System neu auf?

Die Pflege alter Menschen hat keine Lobby, das Krankenhaus schon, stationäre Einrichtungen der Altenpflege auch. Das Gesundheitsministerium müsste dringend neben dem sonstigen Politikbetrieb aufgestellt werden, um nicht den Legislaturperioden unterworfen zu sein. Gesundheitspolitik kann nicht alle vier Jahre einen neuen Kurs bekommen. Und dann gibt es noch etwas, das sich dringend ändern müsste: Die Pflege dürfte nicht von Bundesland zu Bundesland anderen Bedingungen unterworfen sein. Höhere Pflegegrade zu bekommen, ist in Bayern beispielsweise leichter als in Nordrhein-Westfalen. Das ist nur ein Beispiel für den Irrsinn des Föderalismus’. Wir müssen das alles ganz neu zu denken beginnen, sonst landen wir in einer Katastrophe.

Von Benjamin Piel, Chefredakteur