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14 50 Jahre Stichlinge „Wir waren alle talentiert“ Bernd Gieseking war vom ersten Kabarettbesuch an fasziniert ähnlich unerfahren wie ich. Doch wir waren alle talentiert. Uschi Umbach, Eberhard Schrader und Wolfgang Freitag, ein brillanter Komödiant, der einzige mit Erfahrung. In meiner zweiten Saison kehrten Dieter Fechner und Volker Aschenbrock zurück. Gerade Fechner nahm mich an die Hand, erklärte mir Textaufbau und „Bühnengesetze“ und behandelte mich als Freund. Ich verdanke ihm und Birger viel. Dieter Hildebrand sagte mal: „Als ich Kabarettist wurde, wusste ich nicht, dass das ein Berufsstand ist.“ Als ich zu den Stichlingen kam, wusste ich nicht, dass ich Kabarettist werden würde. Danke dafür! Für die Inspirationen, die Idee und den Mut und die ersten wichtigen Erfahrungen! Und eine dicke, dicke Gratulation allen Je- Mitgliedern, vor allem aber an Birger zu dieser nicht nur inhaltlich, sondern vor allem auch organisatorisch unfassbaren Aufgabe, 50 Jahre lang die Ensembles gebildet und geleitet und nicht zuletzt auch die Gastspiele organisiert zu haben – aus ganzem Herzen. dete die Gruppe neu. Thomas nahm mich mit zur Probe. Und ich durfte bleiben. Hilfestellungen gab es wenig. Das Spiel auf der Bühne war learning by-doing. Die damals teils doch sehr bürgerlichen Kreise um die Stichlinge hätten mich gern wieder rausgesetzt, aber Birger setzte auf mich. Ich konnte und musste mir viel von den anderen abschauen, eigentlich wie tagsüber auf den Baustellen auch. Nur waren die Mitspieler im ersten Jahr zwar älter, aber die Garanten großer kritischer und komischer Traditionen. Und in Minden? Die Stichlinge waren tatsächlich mein erstes Kulturerlebnis überhaupt. Die Freundin meines Onkels, Gudrun Türbsch, war im Ensemble und meine Eltern gingen mit ihm dorthin und nahmen mich mit, „dän Öllsten“, ich war 14 oder 15 Jahre alt. Ich muss ihnen danken! Was hat dieser Besuch im Nachhinein ausgelöst! Denn ich war begeistert. Ab da, wenn ich „einhüten musste“, auf meinen kleinen Bruder aufpassen, sah ich im TV mit Vorliebe Kabarett: Die Münchener Lach- und Schießgesellschaft, das Düsseldorfer Kom(m)ödchen, die Stachelschweine. TV- Kabarett der späten 60er und frühen 70er. Ich engagierte mich als Jugendlicher in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit der Christuskirche. Der neue Kantor, Thomas Wirtz, nur wenig älter als ich, wurde Pianist der Stichlinge. Ich war etwa 19 und grad in der Lehre als Zimmermann. Die Stichlinge hatten sich zerstritten, Birger grün- Von Bernd Gieseking Das Kabarett hat sich gewandelt in den 50 Jahren, die die Stichlinge nun schon bestehen. Vor allem war die Szene viel, viel kleiner. Das älteste deutsche Amateur-Kabarett darf wahrhaft stolz sein auf seine Kontinuität. Die Profi- Ensembles durchliefen scheinbar mehr Höhen und Tiefen. Die früher überragenden Gruppen aus München, Düsseldorf und Berlin verloren an überregionaler Bedeutung. An so etwas waren die Stichlinge nie interessiert. Das hätte auch die Möglichkeiten gesprengt. Sie sind waschechte, ungedopte Amateure! Aber trotzdem Olympiareif! Prägende Köpfe des deutschen Kabaretts sind inzwischen entweder verstorben, wie Dieter Hildebrand, Hanns Dieter Hüsch, Heinrich Pachl und der große Matthias Beltz. Oder sie treten weit vor der Zeit zurück wie Georg Schramm und aktuell Volker Pispers. Aber Liedermacher Hannes Wader und Kabarettist Arnulf Rating sind weiter Bernd Gieseking hat bei den Stichlingen die ersten Lektionen seines späteren Berufs gelernt. Foto: MT-Archiv Kabarett ist eine gute Schule für die Politik Die spätere Justizministerin lernte Rituale enttarnen und Wortungetüme entlarven stand es prächtig, zum Beispiel den besonders in NRW umstrittenen bayerischen Politiker Franz-Josef Strauß, der selbst der beste Ideenlieferant für das politische Kabarett länglichkeiten klar benennen und das mit hohem Unterhaltungswert. Politik durch die Brille der Kabarettisten serviert, ist selbst Politik, In der damaligen Zeit waren zum Beispiel die unvergessene Lore Lorentz und die Lach- und Schießgesellschaft mit Dieter Hildebrand, Straßenfeger. Ich wusste damals nicht, dass ich über 20 Jahre später als Bundestagsabgeordnete und als erste Frau in einem klassischen Ressort, dem Bundesjustizministerium, selbst dem Kabarett Zutaten würde liefern können. Meine kurze Zeit bei den Stichlingen hat meinen kritischen Blick auf mein eigenes Tun geschärft und mir geholfen, politische Aufs und Abs nicht zu ernst zu nehmen. Eine gute Schule. war, zum Favoriten in Sketchen zu machen. Mein Zugang zu politischen Themen waren damals besonders die Gespräche im Kreis der Stichlinge. Eine bessere Sichtweise auf die Politik als durch die Brille des Kabaretts gibt es nach meiner Überzeugung nicht. Rücksichtlos und frei von Parteipolitik aktuelle politische Entscheidungen zu sezieren, ihren Kern bloß zu legen und sie dann unterhaltend und überzogen dem Publikum zu präsentieren, verlangen Kenntnis der politischen Fakten, politische Meinung und ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Jeder Politiker sollte von dieser Warte aus sich auch mit Politik beschäftigen, die eigenen Rituale enttarnen und Wortungetüme als solche entlarven, Unzu- Von Sabine Leutheusser-Schnarrenberg Als gebürtige Mindenerin verbinde ich mit dieser Stadt das Wasserstrassenkreuz, die Porta Westfalica und das bekannteste regionale Kabarett in Deutschland: Die Mindener Stichlinge. In den 50 Jahren ihres unermüdlichen Aufspießens lokaler genauso wie bundespolitischer Themen haben sie sich ein großes Fanpublikum und einen festen Platz im Kulturleben in Minden, in Ostwestfalen Lippe und weit darüber hinaus erworben. Meine erste Berührung mit der Politik hatte ich als Abiturientin bei den Stichlingen Anfang der 70er, einige Jahre nach ihrer Gründung. Birger Hausmann war schon damals die treibende Kraft. Er ver- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat bei den Stichlingen den kritischen Blick auf die Politik gelernt. MT-Foto: Alex Lehn


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