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20170701.MT-FREI

Mindener Freischießen 19 Reitkunst erlernen MT-Redakteur Henning Wandel unternimmt einen Selbstversuch Die Hose ist ungewohnt eng, die Stiefel ein wenig zu weit und der Respekt riesengroß. Die erste Begegnung mit Clemens hinterlässt ordentlich Eindruck, ich kann dem Westfalen nicht einmal über die Schulter schauen – allein die ist schon 1,86 Meter hoch und überragt mich also um vier Zentimeter. Schulter ist im Übrigen auch nicht ganz richtig: Widerrist ist korrekt, denn Clemens ist ein Pferd, ein dunkelbrauner Wallach, auf dem ich meinen ersten Sitzversuch mache. Eine echte Premiere ist der Nachmittag in Friedewalde nicht. Über meine wirklich erste Reiterfahrung vor 25 Jahren hülle ich aber lieber den Mantel des Schweigens. Und jetzt soll ich mich allen Ernstes darauf vorbereiten, am Paradetag aus dem Sattel über das Mindener Freischießen zu berichten? Das dürfte wohl eine der ungewöhnlichsten Herausforderungen in meinem Berufsleben werden. Als Dieter Thäsler das Projekt vorschlägt, kann auch er noch nicht wissen, auf was er sich einlässt. Er ist Rittmeister der Eskadron. Von ihm stammt die Idee, das Freischießen aus einer anderen Perspektive zu zeigen – und dafür in nur wenig mehr als vier Monaten einem Anfänger das Reiten beizubringen. Ohne Angst in allen drei Gangarten, so heißt das Ziel bis zum Samstag des Freischießens. „Reiten ist lebenslanges Lernen“, sagt Thäsler. Gleichzeitig kann er sich in meine Situation hereinversetzen: Auch er hat die Reiterei erst mit Ende 30 für sich entdeckt. Für den wöchentlichen Unterricht bleibt der Riese Clemens aber erst mal in seiner Box. Stallkollege Pims, den Thäsler als Schulpferd auserkoren hat, ist aber auch nicht wesentlich kleiner. Dafür hat er mit seinen 23 Jahren den Langmut, mich ohne zu klagen auf seinem Rücken zu dulden. Um ganz sicher zu gehen, nutze ich jede Gelegenheit, den Oldenburger mit einer Möhre zu bestechen und nehme mir beim Putzen extra viel Zeit. Wenn er sich wohlfühlt, habe ich es vielleicht etwas leichter. Inzwischen weiß Pims auch schon genau, in welcher Tasche ich meinen Karotten-Vorrat versteckt habe – und das Pferd hat einen wirklich überzeugenden Hundeblick drauf: Den Kopf schräg nach unten, den Blick schüchtern nach oben und schon weiß ich: Pims hat Appetit. Beim Freischießen selbst haben die Mindener Pferde frei. Auch Rittmeister Thäsler wird die Eskadron dann nicht mit seinem Clemens anführen, obwohl sich beide gut kennen und höchstwahrscheinlich nichts passieren würde. Aber seit einigen Jahren geht das Bürgerbataillon ganz auf Nummer sicher und reitet auf Pferden aus einem Krefelder Stall, die speziell für solche Veranstaltungen trainiert werden. Ein Tier, das an Rosenmontag im Kölner Karneval unterwegs ist, lässt sich von Zuschauern am Straßenrand ebenso wenig aus der Ruhe bringen wie von einem unsicheren oder ungeübten Reiter. Auch für mich eine gute Nachricht. Obwohl – nach fünf Reitstunden mit Pims fühlt es sich fast schon an, als hätte ich einen neuen Kumpel gefunden, den ich nur ungern gegen ein Mietpferd eintauschen würde. Andererseits scheint er fast Spaß daran zu haben mich immer wieder auf die Probe zu stellen – und die kann ich als Anfänger nur verlieren. Also doch lieber den Veranstaltungsprofi vom Niederrhein. Ein paar Meter weiter übt etwas später auch die echte Eskadron. Das Knabstrupper- Gestüt Af Wendandi öffnet einmal in der Woche seine Reithalle, damit sich die Kameraden den Feinschliff für das Freischießen holen können. Sie alle eint das Interesse an Pferden – obwohl es auch in der Eskadron nicht nur Profis gibt. Und auch die, die zum großen Fest selbst nicht mehr in den Sattel steigen, finden sich gerne hinter der Bande der Reithalle zusammen. Auch Mathias Enk ist mit dabei, wenn die Eskadron bei ihm zu Gast ist. Er ist der Inhaber des Gestüts und gleichzeitig Kavallerist der Eskadron. Die Halle ist normalerweise nur den Knabstruppern aus dem Gestüt vorbehalten, die auch gleich in dem Gebäude untergebracht sind. Die Hengste links, die Stuten rechts der Halle. Für das Bürgerbataillon macht Enk eine Ausnahme. Hier kann die Eskadron unabhängig vom Wetter auch das Reiten in der Abteilung üben. Noch ist das eine andere Welt. Hier muss niemand mehr wie ich an einer Longe üben, alle haben ihr Pferd bestens im Griff. Für mich ist es aber guter Anschauungsunterricht. Und ein Ziel: Bevor es auf dem Marktplatz ernst wird, will ich mich unter den alten Hasen beweisen. Wenn ich hier eine gute Figur mache, ist mir auch vor der großen Parade nicht mehr ganz so bange. Inzwischen liegen sieben Reitstunden hinter mir – und die Erkenntnis, dass Reiten mehr ist, als gemütlich im Sattel zu sitzen und das Pferd die Arbeit machen zu lassen. Zwar fühle ich mich im Trab schon einigermaßen sicher und auch die ersten Versuche im Galopp machen Hoffnung. Aber es ist deutlich anstrengender als gedacht und gerade im Trab fühle ich mich immer mal wieder wie auf einer Buckelpiste, bis ich den Rhythmus des Pferdes verstanden habe. Und das ist auch immer noch alles an der Longe, ich muss mich also um nichts weiter kümmern, als im Sattel zu bleiben. Zum Schluss der Stunde löst Dieter Thäsler die Longe und gibt mir damit die Zügel selbst in die Hand. Plötzlich muss ich alleine lenken – und darauf achten, Pims nicht zu erschrecken und mich damit in Schwierigkeiten zu bringen. Anfangs bin ich schon froh, wenn der Wallach wenigstens ab und zu das macht, was ich möchte. Und wenn der alte Junge keine Lust mehr hat, bleibt er einfach stehen, sobald wir auf unserer Runde am Tor angelangt sind. Wie gesagt: Pims stellt mich gerne auf die Probe. Aber es wird schon werden. Dieter Thäsler (r.) bringt Henning Wandel die Grundlagen bei. Foto: MT/Nadine Schwan


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