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Freitag, 18. September 2015 · Nr. 217 Arbeit 2015 Mindener Tageblatt 31 Halt im Alltag und gut fürs Selbstbewusstsein Einen Job zu haben, wünschen sich auch Menschen mit Behinderung. Die gemeinnützige Lebenshilfe Arbeit vermittelt sie in den ersten Arbeitsmarkt. Auch die Diakonie Stiftung Salem hilft ihnen bei der Qualifizierung. „Der Wert der Arbeit ist nicht nur, keine Leistungen zu bekommen, sondern auch eine angemessene Arbeit.“ Jochen Rogmann, Geschäftsführer der Lebenshilfe Stephanie Kloos hat über die „gemeinnützige Lebenshilfe Arbeit“ eine Stelle in einem Supermarkt gefunden. MT-Foto: Doris Christoph zielte innerbetriebliche Suche nach verstreuten, zumeist einfachen Einzeltätigkeiten und deren Zusammenstellung zu einem neuen, für einen behinderten Menschen geeigneten Stellenprofil unter Mitwirkung einer externen, arbeitsanalytisch versierten Fachkraft.“ Darauf zielt auch ein neues Projekt der Diakonie ab: Menschen mit Behinderung können eine „Fortbildung zur Betreuungskraft nach Paragraf 87b“ machen und in Alten- und Pflegeheimen beispielsweise den Bewohnern Getränke reichen oder mit ihnen spielen. So halten sie den examinierten Pflegekräften den Rücken für andere Aufgaben frei. Damit könnte einerseits dem Fachkräftemangel in der Altenpflege und andererseits der steigenden Zahl etwa Demenzkranker begegnet werden. Mit dem technischen Fortschritt sieht Jochen Rogmann von der Lebenshilfe hingegen durchaus Probleme auf Menschen mit Behinderung zukommen. Die technische Spezialisierung habe schon dazu geführt, dass einfache Tätigkeiten anspruchsvoller geworden seien. „Das wird auch für Unternehmen eine Herausforderung zu gucken, wo lässt man es mit der Automation.“ Gleichzeitig werden bereits jetzt die Grundlagen für mehr Inklusion im Arbeitsleben gelegt: Je mehr Kinder mit Behinderung eine integrative Schule besuchten, desto besser würden deren Voraussetzungen für den ersten Arbeitsmarkt – und der Wunsch, dort eine Beschäftigung zu bekommen, ist sich Jochen Rogman sicher. Und die Möglichkeiten, dem nachzukommen, seien da: In jeder dritten Firma sieht der Lebenshilfe- Geschäftsführer das Potenzial, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Dafür müsse aber ein Umdenken stattfinden: „Nicht der Mitarbeiter muss sich an den Arbeitsplatz anpassen, sondern der Arbeitsplatz an den Mitarbeiter. “ ersten Arbeitsmarkt zu bekommen? Unter dem Stichwort „Arbeit 4.0“ werden Visionen gemalt, in denen einfache Helfertätigkeiten eher von Maschinen als von Menschen ausgeführt werden. Bedroht das nicht die Arbeitsplätze der Werkstatt-Mitarbeiter und auch von André Wahl und Stephanie Kloos? Für die WfbM sehen Mark Westermann und Ute Lohmeyer angesichts zunehmender Automatisierungsprozesse keine Bedrohung. „Maschinen laufen nur mit großer Stückzahl. Bei uns gehen aber eher Aufträge mit kleiner Stückzahl ein“, sagt Ute Lohmeyer. Mark Westermann meint, die Werkstätten seien auch ein Standortfaktor für heimische Auftraggeber: „Wir machen Dinge, die sonst ins Ausland verlagert würden.“ Eine Zukunftschance für Menschen mit Behinderung sieht die Diakonie vor allem im Dienstleistungsbereich. „Betreuungsassistenz und Job Carving“ nennt Ute Lohmeyer als Stichwörter. „Job Carving“ bezeichnet laut Definition des LWL „eine gehalte sind mit den zuständigen Berufskammern abgeglichen. Zum Abschluss gibt es eine praktische und eine theoretische Prüfung. Nach Abschluss der Ausbildung versucht der Integrationsfachdienst, eine geeignete Stelle zu finden. 67 Teilnehmer gibt es pro Jahr. Stolz erzählen Lohmeyer und Westermann von einem, bei dem all das geklappt hat: André Wahl. Er war zunächst in den WfbM beschäftigt und machte dann auf einem ausgelagerten Werkstattplatz bei Schwenker seine Ausbildung zum Fachlageristen. Zum 1. September wurde der 23- Jährige von der Firma übernommen. Ob es in Zukunft für Behinderte einfacher wird, einen Fuß auf den Wenn es richtig gut läuft, übernehmen die Partner-Unternehmen die Mitarbeiter. Zwei Mal sei dies in den acht Jahren seit Bestehen der „gemeinnützigen Lebenshilfe Arbeit“ passiert, erklärt Jochen Rogmann. Zurzeit beschäftige sie 31 Mitarbeiter. Das Unternehmen arbeitet auch mit den Werkstätten der Diakonie Stiftung Salem zusammen. Entstanden aus Selbsthilfegruppen von Eltern, die für ihre behinderten Kinder eine Beschäftigung schaffen wollten, haben auch die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) mittlerweile die Aufgabe, auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. „Seit der Novellierung des Schwerbehindertengesetzes 1996 müssen die Werkstätten ein breites Angebot zur Förderung im Berufsbildungs- und im Arbeitsbereich vorhalten und den Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt unterstützen“, erklärt Ute Lohmeyer, Bereichsleitung der Arbeits- und Berufsförderung bei der Diakonie. WfbM-Beschäftigte können Fortbildungen besuchen und zum Beispiel an Qualifizierungsbausteinen teilnehmen. „Das funktioniert natürlich nicht für alle. Gerade bei den psychischen Erkrankungen haben wir viele Betroffene, die an der Arbeitswelt und dem dortigen Druck zerbrochen sind“, erklärt Mark Westermann, Fachbereichsleitung Behindertenhilfe Arbeit. Er möchte mit dem Vorurteil aufräumen, die WfbM seien eine Einbahnstraße. „Werkstätten kranken noch immer daran, dass man den Menschen hier nichts zutraut“, sagt Ute Lohmeyer. Vor diesem Stigma fürchten sich viele. „Je fitter jemand intellektuell ist, desto schwieriger ist die Beschäftigung in der Werkstatt für ihn, weil sie negativ besetzt ist.“ Andere seien hingegen froh, hier keinen Druck zu erfahren. Denen, die in den ersten Arbeitsmarkt wollen, hilft die Integrationsassistenz. Sie bereitet Beschäftigte auf ein Betriebspraktikum vor und vermittelt ausgelagerte Werkstattplätze in Kooperationsunternehmen. Hier können sie dann mit der Teilnahme an Qualifizierungsbausteinen eine externe, abgespeckte Berufsausbildung machen. Die Lernin- Von Doris Christoph Minden (mt). „Komm, ich nehm dir das mal ab“, sagt Stephanie Kloos zu ihrer Kollegin und schnappt sich eine Palette mit Joghurt-Bechern. Dann beginnt die 28-Jährige, das Regal einzuräumen: Die neue Ware nach hinten, die ältere nach vorne, immer einen Blick auf das Mindesthaltbarkeitsdatum. „Die Ware wird zwei, drei Tage, bevor sie abläuft, reduziert“, erklärt sie. Für Außenstehende sind das einfache Tätigkeiten. Für Stephanie Kloos aber nicht. Die Mindenerin hat eine Behinderung. „Meine Feinmotorik ist nicht so gut, ich kann auch nicht so klar sprechen. Ich habe eine linksseitige Hemiparese: Bei der Geburt hat mein Gehirn ein paar Minuten keinen Sauerstoff bekommen“, erklärt sie. Handgriffe muss sie mehrmals üben, damit sie klappen. Als Kloos vor drei Monaten im Wez-Markt in Dankersen anfing, hat sie sich mit Zeichnungen eingeprägt, wo die Produkte im Regal stehen. „Abends habe ich mich noch mal hingesetzt und mir die Pläne angeschaut.“ Verbesserungsvorschläge ihrer Kollegen hat sie sich notiert und wenn sie unsicher war, noch einmal nachgelesen. Das gibt ihr Sicherheit. Die Identifikation mit dem Unternehmen und die Zuverlässigkeit zeichne die Mitarbeiter der „gemeinnützigen Lebenshilfe Arbeit“ aus, erklärt Geschäftsführer Jochen Rogmann. Über das Integrationsunternehmen, das vom Verein Lebenshilfe gegründet wurde, wurde der 28-Jährigen eine Beschäftigung vermittelt. Es fördert die berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Die ist auch im Grundgesetz festgeschrieben. 1994 wurde hier der Satz eingefügt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Dennoch ist der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt, wo Beschäftigungsverhältnisse nicht subventioniert werden, nicht einfach. Dabei hat ein Job für Menschen mit Behinderung einen genau so hohen Stellenwert wie für Menschen ohne Einschränkungen. „Für mich persönlich ist das wichtig, eine Beschäftigung zu haben. Das gibt einem Halt im Alltag“, bestätigt Kloos. Nach ihrer Ausbildung zur Sportsattlerin war sie arbeitslos. Für sie eine schlimme Zeit. Zunächst half sie bei Renovierungsarbeiten in ihrem Reitverein mit. „Aber das war ja absehbar, dass die irgendwann vorbei sein würden.“ In einer Behinderten-Werkstatt wollte sie nicht arbeiten. Durch den Integrationsfachdienst – einem Trägerverbund der Diakonie Stiftung Salem und des Kreises Minden-Lübbecke, der im Auftrag des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) zwischen Arbeitnehmern mit Behinderung und Betrieben vermittelt – kam sie zur „gemeinnützigen Lebenshilfe Arbeit“. Bei ihr ist Kloos nach Tarif angestellt und arbeitet Teilzeit in einem der Kooperationsunternehmen. Regelmäßig schaut ein Lebenshilfe- Mitarbeiter vorbei und unterstützt, wenn irgendwo der Schuh drückt. André Wahl hat die „Qualifizierungsbausteine“ für die Arbeit als Fachlagerist absolviert. Den praktischen Teil absolvierte er bei der Firma Schwenker, Ausbilder Torsten Koch stand ihm zur Seite. Foto: pr Neues Projekt bildet zum Betreuungsassistenten aus Die Teilhabe von Behinderten am Arbeitsleben steht im Grundgesetz.


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