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Freitag, 18. September 2015 · Nr. 217 Arbeit 2015 Mindener Tageblatt 25               Mitgestalten statt aufhalten MT-Interview: Karl-Heinz Brandl von der Verdi-Bundesverwaltung und Lutz Schäffer von der IG Metall Minden erläutern, wie sich die Gewerkschaften auf die neue Arbeitswelt vorbereiten. „Die Digitalisierung kann durchaus auch ein attraktives Zukunftsbild für die Beschäftigten in der Region entfalten.“ Lutz Schäffer „Soziale Kompetenzen rücken verstärkt in den Vordergrund.“ Karl-Heinz Brandl Menschen zu sichern – zum Beispiel im Wege erhöhter Investitionen und verlängerter Weiterbildungszeiten. Schäffer: Um den sich verändernden Qualitätsanforderungen für die Beschäftigten Rechnung zu tragen, haben wir als IG Metall bereits in der Tarifrunde 2015 mit der gesamten Organisation einen entsprechenden Tarifvertrag vereinbart, welcher den Beschäftigen die Möglichkeit gibt, sich im Betrieb fortzubilden und die entsprechenden Qualifikationen zu erreichen. Wir wissen aber auch, dass es gerade im Bereich der neuen Ausbildungsberufe erhebliche Änderungen geben wird. Hier heißt es, die Ausbildung für diese neuen Anforderungen attraktiv und zeitgerecht zu gestalten. Eine große Aufgabe besteht sicherlich darin, adäquate Tätigkeiten für die Arbeitskräfte zu finden, die durch Roboter freigesetzt werden ... Brandl: … deshalb bedarf es erheblicher Anstrengungen mit dem Ziel, die Beschäftigungsbilanz des Wandels positiv zu gestalten und Arbeit für alle zu ermöglichen. Dafür müssen Produktivitätsfortschritte, die möglich werden, zumindest in Teilen umverteilt werden. Sie sollten genutzt werden für beschäftigungswirksame Investitionen in gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen, insbesondere in soziale Dienstleistungen wie etwa Pflege und Kinderbetreuung, für steigende Masseneinkommen und kürzere Arbeitszeiten. Schäffer: Unsere Aufgabe besteht darin, die zurzeit Beschäftigten in den Betrieben weiterhin für die neuen Anforderungen zu qualifizieren. Das Ziel heißt nicht, die Kündigungen zu gestalten, sondern die Qualifikation in den Betrieben mit den Beschäftigten nach vorne zu bringen. che Tätigkeiten sie ausführen werden. Ich sehe auch aus heutiger Sicht keine menschenleere Fabrik. Herr Brandl, wann werden Logistik- Roboter in den Lagerhallen die Arbeit komplett übernehmen? Brandl: Nein, darum geht es nicht. Im Übrigen gibt es bereits menschenleere Lagerhallen. Wir sind massiv damit beschäftigt, für die heutigen und die künftigen Beschäftigten Zukunftsstränge zu entwickeln. Viele Berufe und Berufsbilder müssen dringend modernisiert werden. Ich wünsche mir mehr Studenten, die beispielsweise ihre Bachelorarbeit nicht darüber schreiben, wie man den Betriebsablauf noch effizienter gestalten kann, sondern darüber, wie wir beschäftigungswirksames Potenzial in gesellschaftlich nützlichen Bereichen schaffen können. Gleichwohl können Maschinen auch die Arbeit erleichtern, oder? Brandl: Wenn körperlich schwer belastende, geistig stupide oder prekäre Arbeit durch Maschinen ersetzt wird, haben wir als Verdi nichts dagegen. Allerdings muss dann den betroffenen Beschäftigten gleichzeitig eine Perspektive eröffnet werden. Schäffer: Roboter oder Maschinen können durchaus arbeitsergonomische Erleichterungen für Beschäftigte mit sich bringen. Gerade hierauf ist ein besonderes Augenmerk zu legen, indem wir genau an den Arbeitsplätzen die bisher eher gesundheitsschädlich sind, diese Techniken auch dazu nutzen, um Beschäftigte zu schützen. Wenn sich die Arbeitszusammenhänge so extrem wandeln, verändern sich auch die Anforderungen an die Beschäftigten. Welche flankierenden Maßnahmen sind dafür erforderlich? Brandl: Neben der Fähigkeit, neue technische Arbeitsmittel zu beherrschen, geht es auch darum, dass Beschäftigte in der Lage sein müssen, in flexibleren Arbeitswelten selbstorganisiert ihren Arbeitsalltag zu meistern. Soziale Kompetenzen rücken verstärkt in den Vordergrund. Deshalb müssen die Bemühungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, namentlich in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, intensiviert werden, um die Beschäftigungsfähigkeit der profitieren wir alle davon. Gerade weil die Digitalisierung ein gewaltiges Potenzial an Ambivalenz in sich birgt, und gerade weil in diesem Land die Mehrzahl der Menschen in Dienstleistungen beschäftigt sind, ist die Gestaltung der Dienstleistungswirtschaft die wichtigste Aufgabe, um Zukunftsfähigkeit für alle herzustellen. Schäffer: Die Unternehmen, die sich heute intensiv diesem Thema widmen, werden im Endeffekt die Gewinner sein. Es werden diejenigen sein, die den Wandel mitgestalten und nicht die Augen davor verschließen, dass es eine Veränderung der Wertschöpfungskette geben wird. Erwartet wird ein schleichender Übergang. Herr Schäffer, wann geht die erste menschenleere Fabrik in Betrieb? Schäffer: Der digitale Strukturwandel lässt sich nicht aufhalten, Wir wollen diesen digitalen Wandel mitgestalten. Das haben wir in verschiedenen Erklärungen und Aktionen bereits deutlich gemacht. Wir haben in den letzten Monaten in einzelnen Betrieben in Ostwestfalen Lippe eine entsprechende Erhebung durchgeführt und festgestellt, dass es sehr unterschiedlich ist, wie sich der digitale Wandel in den einzelnen Unternehmen gestaltet. Klar ist aber, dass es ein schleichender Prozess ist, der nicht immer für jeden sofort zu erkennen ist. Die Frage nach der menschenleeren Fabrik wird immer wieder gestellt. Ich gehe davon aus, dass wir immer Menschen in den Fabriken haben werden. Die Frage ist, wie viele es sein werden, welche Qualifikation sie haben und welwir mit unseren Kolleginnen und Kollegen und den Betriebsräten in den Betrieben mitgestalten. Welche Tätigkeiten unterliegen denn dem größten Risiko? Schäffer: Industrie 4.0 wird eine Veränderung entlang der gesamten Wertschöpfungskette in den Unternehmen und auch in der Region Ostwestfalen Lippe haben. Wir wissen heute schon, dass wir auch entlang dieser Wertschöpfungskette alle Arbeitsplätze im Blick haben müssen und gerade die IG Metall ist eingetreten, um hier attraktive Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu generieren. Brandl: Die Dienstleistungsbranchen gehören zu den Spitzenreitern der hoch digitalisierten Bereiche. In der Musikbranche, im Bankwesen und im Versandhandel wurden bereits gewaltige Umwälzungen vollzogen. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass nicht nur im Bereich Geringqualifizierter, sondern auch im mittleren Qualifikations und Entgeltbereich viele Arbeitsplätze wegfallen könnten oder sich massiv verändern werden. Alles in allem also kein attraktives Zukunftsbild … Schäffer: Die Digitalisierung kann durchaus auch ein attraktives Zukunftsbild für die Beschäftigten in der Region entfalten. Die Frage ist hier aber, wie wir alle mitnehmen können – und das heißt auch, diejenigen, die heute in den Betrieben sind, entsprechend zu qualifizieren und ihnen Fortbildungsmöglichkeiten und attraktive Tätigkeiten anzubieten. Wenn uns das gelingt, können wir an einer interessanten Zukunft mitgestalten. Brandl: Es gibt auch viele Chancen. Im Zuge der Digitalisierung entstehen neue Jobs, auch kann Arbeit mittels technischer Arbeitsmittel wie Smartphone und Tablet vielfach räumlich und zeitlich flexibel erledigt werden. Eine auf diese Weise erweiterte Zeit- und Ortssouveränität kann helfen, Arbeit und Leben besser miteinander zu vereinbaren. Und wer profitiert? Brandl: Wenn wir uns alle anstrengen, Von Thomas Traue Minden/Berlin (mt). Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt verändern. Nach einer Studie der ING-Diba sind mehr als 18 Millionen oder fast 60 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet. Optimisten hingegen betonen, die Digitalisierung bedeutet nicht automatisch, dass weniger menschliche Arbeit benötigt wird. Lutz Schäffer, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Minden, wie auch Karl-Heinz Brandl, Bereichsleiter beim Verdi-Bundesvorstand in Berlin, sehen neben den Risiken vor allem auch die Chancen. Die Gewerkschaften wollen den Prozess aktiv mitgestalten, wie beide Experten im MT-Interview bekräftigen. Die Prognosen zu den Folgen der Automatisierung sind bislang noch ambivalent. Wie lautet ihre Prognose? Brandl: In den Dienstleistungsbranchen, das sind über 70 Prozent der Beschäftigten, erleben wir schon die ersten Folgen dieser Entwicklung. Unsere Verdi-Mitglieder mussten erfahren, wie schnell Vorhandendes infrage gestellt werden kann. Vor drei Jahren wäre noch kein Taxifahrer in Berlin auf die Straße gegangen, weil seine Einkommensgrundlage durch die Applikation Uber gefährdet wird. Airbnb wurde erst 2008 gegründet und hat heute einen Marktwert von zehn Milliarden Euro, halb so viel wie der Marktwert der gesamten Hilton-Gruppe mit 3897 Hotels weltweit. Hafenarbeiter fragen nach den Auswirkungen vollständig automatisierter Containerhäfen. Menschen in der Logistik fragen nach den Auswirkungen selbstfahrender Logistikfahrzeuge, von Drohnen, die Sendungen zustellen und einer Schwarmlogistik, die in Schweden bereits ausprobiert wird: Ja, es werden viele Arbeitsplätze gefährdet. Schäffer: Auch wir kennen Prognosen, die eine Gefährdung von Arbeitsplätzen darlegen, aber wiederum auch Chancen aufzeigen. Aus diesem Grunde haben wir uns schon vor über drei Jahren diesem Thema angenommen, um hier neben der rein technisch belasteten Entwicklung von Industrie 4.0 das Thema Arbeit und Gesellschaft 4.0 nach vorne zu bringen. Wir leiten aus den Prognosen einen Arbeitsauftrag ab, den Lutz Schäffer, Bevollmächtigter der IG Metall Minden. Karl-Heinz Brandl, Bereichsleiter beim Verdi-Bundesvorstand.


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