20150918_MT_66

arbeit_2015

18 Mindener Tageblatt Arbeit 2015 Nr. 217 · Freitag, 18. September 2015 a Was ist Arbeit wert? Status, Geld, Identifikation – was über Jahrzehnte Gültigkeit besaß, steht jetzt infrage. Eine neue Definition ist nötig, doch die Annäherung daran erfolgt nur schrittweise. Darstellung des Unternehmens als Arbeitgebermarke. Gleichzeitig könnte ein Umdenken an den ökonomischen Grundüberzeugungen nötig sein. Die Stichworte hier lauten Subsistenz oder Postwachstumsökonomie. 60 Prozent der traditionellen Berufe werden in den nächsten 20 bis 30 Jahren in Deutschland verschwinden, zitiert Mohe aus einer Studie. Dafür werden wieder neue Arbeitsfelder entstehen. Die besten Aussichten gibt es an den Schnittstellen von Wirtschaft und Technik, also für Ingenieure und/oder Betriebswirte. Dem stimmt auch Oliver Wetter zu: „Ingenieure bekommen sicher einen Job, bei manchen Naturwissenschaftlern, zum Beispiel Physikern und Chemikern, geht es auch noch ordentlich. Geisterwissenschaftler hingegen ebnen sich den Weg zum Arbeitsmarkt typischerweise über eine zusätzliche Qualifikation.“ Doch Wetter sieht manche Entwicklung auch kritisch: Die Annahme, permanentes Wachstum sei der Normalzustand, sei der Generation Y anerzogen worden. „Wir vermeiden bei unseren Kindern den Konflikt, Nein zu sagen“, sagt er. Auch lebten manche Studenten in dem Glauben, sich als „das rare Gut“ von der Wirtschaft umschwirren zu lassen. „Führungskraft wird man aber nicht allein mit einem Bachelor- Abschluss, sondern auch durch langjährige Arbeit“, warnt der Hochschullehrer. Doch es gibt auch bewusste Gegenentwürfe zur modernen Arbeitswelt. Handwerk wirkt unter dem Titel Manufaktur ganz anders. „Ein Handwerker schafft den Himmel mit seinen Händen“, sagt Oliver Wetter und verweist auf einen studierten Theologen, der inzwischen in Preußisch Oldendorf als Tischler arbeitet. Wetter nimmt als Beispiel einen alten Bilderrahmen, der nur einen Zweck hat: schön auszusehen. Dennoch wird er liebevoll restauriert – auch das ist ein Fall von Komplexitätsvermeidung. Solche Fähigkeiten werden künftig wohl nur noch in Nischen überleben können – entsprechend wenig wird hier noch ausgebildet. „Das wird uns noch treffen“, sagt Wetter. Michael Mohe sieht auch viele Potenziale von Industrie 4.0 für Handwerksunternehmen. Die Digitalisierung komme jedoch nicht von heute auf morgen, „das Thema wabert“ sagt Mohe. Dennoch fürchten bereits jetzt 40 Prozent der Deutschen negative Konsequenzen einer digitalisierten Arbeitswelt. „Wir müssen den Wert der Arbeit neu definieren“, sagt Mohe. „Und dafür müssen alle Akteure an einen Tisch: Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Forschung und die gesellschaftlichen Gruppen. Deutschen schwankten laut einer Gallup-Umfrage von 2013 bei ihrer Arbeitsmotivation zwischen „Dienst nach Vorschrift“ und „Innerer Kündigung“. Eine mögliche Antwort auf den vermeintlichen Wertverlust der eigenen Arbeit besteht in einem Wechsel der Perspektive: Der Arbeitnehmer ist nicht mehr fester Bestandteil eines Produktionsprozesses, seine Arbeitskraft wird selbst zur Ware. „Das Kapital gewinnt“, sagt Mohe. Je weiter die Digitalisierung voranschreite, desto weniger Arbeitskraft ist nötig. Unterm Strich steigt also die Rendite der Anteilseigner. Eine mögliche Lösung wäre demnach, die Mitarbeiter an der Kapitalisierung teilhaben zu lassen – über Gewinnbeteiligungen oder Stiftungen etwa. Oder über Intrapreneurship. Mohe beschreibt einen Arbeitnehmer in diesem Modell als Unternehmer innerhalb eines Unternehmens. Hohe Eigenverantwortlichkeit für einen klar definierten Bereich könnte die Identifikation mit der Arbeit ebenso erhöhen wie die individuellen Qualifizierungs- und Verdienstmöglichkeiten. In der Konsequenz könnte sich also ein Beschäftigungsmodell etablieren, das mehr hoch spezialisierte Fachleute hervorbringt, die unabhängig von Unternehmenszugehörigkeiten bei wechselnden Arbeitgebern beschäftigt sind. Software-Berater etwa arbeiten schon heute nach diesem Muster. Unternehmensberatung wird ohnehin bei der zunehmenden Komplexität zu einem lukrativen Geschäft werden. „Die Digitalisierung trägt selbst zur Wertschöpfung bei“, sagt Michael Mohe. Weitere Ansatzpunkte auf Wirtschaftsseite sind Qualifizierung, eine neue Unternehmenskultur, soziale Innovationen und Employer Branding, also die Michael Mohe. Viele Firmen befinden sich noch in einer Experimentierphase. Große Dax-Unternehmen beispielsweise versuchen, der Entgrenzung bewusst entgegenzutreten, indem sie zum Beispiel nach Feierabend keine E-Mails mehr durchstellen oder Anrufe unterbinden. Dabei scheinen junge Menschen gerade diese Entgrenzung gar nicht als Bedrohung wahrzunehmen – vorausgesetzt, sie steigert die eigene Flexibilität. Änderungen in der Arbeitswelt sind nötig, sagt auch Oliver Wetter. Doch die können nur schrittweise passieren. Wetter spricht von einer iterativen Anpassung. Der Begriff stammt aus der Mathematik und bezeichnet die mehrfache Wiederholung einer Handlung zur Annäherung an eine Lösung. Die Schwierigkeit besteht vielleicht auch darin, dass die technische Entwicklung zu einem Paradoxon geführt hat. Seit der Erfindung der Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts blieb der Mensch zentraler Bestandteil von Produktionsprozessen, die maschinelle Unterstützung erleichterte dem Einzelnen die Arbeit. Jetzt ist der Mensch nicht mehr alleiniges Zentrum eines Systems, sondern ein Teil davon. Experten wie der Zukunftsforscher Leo A. Nefiodow erwarten die nächste Basisinnovation deswegen im Bereich der psychosozialen Gesundheit. Die klassischen Möglichkeiten der Arbeitserleichterung seien weitgehend ausgereizt, sagt Mohe: „Jetzt geht es darum, den Menschen in und mit seiner Arbeitssituation zufriedener zu machen.“ Echte Zufriedenheit kann es aber nur mit – und nicht trotz – Arbeit geben. Die viel zitierte Work-Life-Balance ist vor diesem Hintergrund auch schon wieder überholt – zumindest aber umstritten. Michael Mohe spricht lieber von Work-Life-Blending, also von Übergängen zwischen beiden Sphären, anstatt sie in zwei gegensätzliche Waagschalen zu legen. Der Autor Markus Frey geht noch einen Schritt weiter und macht das Streben nach Work-Life-Balance verantwortlich für Stress und Burnout. Das Konzept setzt einen Gegensatz von Arbeit und Leben voraus und stellt die Arbeit als negativen Gegenpol dar, schreibt er in einem White Paper. Die Folge: 84 Prozent der zifikationen, die bereits festgelegt waren, bevor sich die Entwickler an die Arbeit machten. Aber was hat das alles mit dem Wert der Arbeit zu tun? Bisher ging es in den verschiedenen Schritten der Industrialisierung immer nur darum, dem Menschen die Arbeit zu erleichtern. „Jetzt erleben wir eine echte Revolution: die Entgrenzung von Arbeit“, sagt Professor Dr. Michael Mohe. Auch er lehrt am Campus Minden, sein Schwerpunkt ist Innovations und Veränderungsmanagement. Der Wert der Arbeit muss völlig neu definiert werden. Status, Einkommen, Identifikation – keines der klassischen Motivationsmuster scheint mehr zu greifen. Jetzt stellt sich die Frage, was den Menschen bei seiner Arbeit noch antreibt, sagt Oliver Wetter. Gerade die sogenannte Generation Y verschließt sich diesen traditionellen Mustern. „Statusdenken erzeugt ein statisches System“, sagt Wetter – und dabei machen die Fachkräfte von morgen nicht mehr mit. Mohe sieht die Herausforderung in der zunehmenden „Ent-Emotionalisierung“ von Arbeit. Das Stichwort passt gut in die Argumentation seines FH-Kollegen Wetter zur wachsenden Komplexität und deren Eindämmung. Beide Perspektiven zusammengefasst ergibt sich ein Muster: Der Rückzug des Einzelnen auf Details erschwert die Identifikation mit dem Produkt, eine emotionale Abkehr ist die Folge. Während die junge Generation in diese veränderte Arbeitswelt hineinwächst, haben die Unternehmen hierauf vielfach noch keine Antwort. „Und dabei kommt jetzt schon die Generation Z“, sagt Von Henning Wandel Minden (mt). Auch in der vierten Evolutionsstufe von Arbeit soll der Mensch im Mittelpunkt stehen. Eingebunden in ein System aus immer mehr Einzelteilen, die in permanentem Dialog miteinander stehen. Für Maschinen ist das kein Problem, sie scheren sich nicht um Komplexität und spulen ihre Abläufe ab, wie sie programmiert sind. Und auch dafür ist inzwischen ein Mensch nicht mehr unbedingt nötig. Denn die neuen Maschinen sprechen miteinander, prüfen und organisieren sich selbstständig. Das Internet der Dinge ist die Basis für die vierte industrielle Revolution, für Industrie 4.0. Der Mensch ist in diesem Gebilde ein Faktor unter vielen. Wie die Maschine muss auch der Mensch funktionieren, damit das Gesamtsystem im Gleichgewicht bleibt. Doch anders als eine Maschine stellt ein Mensch die Sinnfrage. Was ist Arbeit eigentlich noch wert? Damit der Mensch auch weiterhin funktionieren kann, gilt es, Antworten auf diese Frage zu finden. Und zwar auf beiden Seiten: bei Mitarbeitern und Unternehmen. Die Veränderungen sind drastisch, sagt Professor Dr. Oliver Wetter. Der Dekan am Campus Minden beschäftigt sich mit den Auswirkungen von Industrie 4.0 auf Entwickler und Ingenieure. Entwicklungsprozesse werden aufgeblasen. Wenn früher eine Handvoll Entwickler in einem Gespräch festlegen konnten, wie ein neues Produkt aussieht und was es können muss, steht heute eine detaillierte Dokumentation am Anfang allen Schaffens. Was einmal das Ende eines Prozesses bedeutete, ist heute Voraussetzung, überhaupt anfangen zu können. Kreativität muss in diesem Modell zurückstehen. Ein komplexes Gebilde von Anforderungen zwängt moderne Ingenieure in ein System, das sie nur noch zu einem Bruchteil bestimmen können. Eindämmung von Komplexität ist aus Wetters Sicht ein ganz wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft – ob im Beruf oder im Privaten. Um den Alltag überhaupt noch erträglich halten zu können, muss diese stetig wachsende Komplexität reduziert werden. Was privat noch mit verhältnismäßig einfachen Vermeidungs oder Fluchtstrategien möglich ist, funktioniert im Beruf meist nicht mehr. Hier gelingt Reduzierung von Komplexität mit wachsender Spezialisierung. Ein Ingenieur konstruiert kein Auto mehr, er konzentriert sich auf das Getriebe oder, um es auf die Spitze zu treiben, auf eine Schraube innerhalb des Getriebes – gefertigt nach detaillierten Spe- Menschen begegnen wachsender Komplexität mit Vermeidung. „Bei der Industrialisierung ging es bisher darum, Arbeit zu erleichtern. Jetzt erleben wir eine echte Revolution: Entgrenzung von Arbeit – und die wird weiter gehen.“ Prof. Dr. Michael Mohe „Die Generation Y ist unser Erziehungsfehler. Kinder glauben an das „immer mehr“ und wir sagen immer Ja, weil wir den Konflikt vermeiden, Nein zu sagen.“ Prof. Dr. Oliver Wetter


arbeit_2015
To see the actual publication please follow the link above