Morde in Höxter: “Sie sollten sich nicht auf ein niedrigeres Zeitungs-Niveau begeben!”

Pressefreiheit (in der Mitte die MT-Sondertitelseite vom 3.5.2016 zum Tag der Pressefreiheit) und Kriminalitätsberichterstattung (rechts und links die Titelseiten der jeweils davor und danach erschienen Ausgaben) – wie geht das zusammen? Eine kritische Leserin beschwert sich, der Leiter der Nachrichtenredaktion antwortet. Repro: MT


Von: Leserinname [name@mailadresse] Gesendet: Donnerstag, 5. Mai 2016 08:34

An: Redaktion Lokales

Betreff: Leserbrief zur MT-Ausgabe vom 4.5. 2016

Sehr geehrte Damen und Herren,

Am Mittwochmorgen gehe ich an den Küchentisch, möchte mich stärken für den Tag, mit Frühstück und gerne mit relevanten Informationen aus der Tageszeitung. Sie liegt schon da. Angewidert wende ich mich ab! Hatte ich das nicht kürzlich schon mal? Der Aufreißer-Artikel ein schrecklicher Unfall. Diesmal in größten Lettern eine anschauliche Beschreibung von perverser Grausamkeit eines kranken Hirnes.

Habe ich die falsche Zeitung abonniert? Was hat das auf der ersten Seite zu suchen? Sie wollte ja seit Neustrukturierung ein wichtiges Thema aus Minden aufgreifen. Passt nicht. Dann sollte es von allgemeiner großer Relevanz sein. Nein, diese Information hat keine Relevanz für mich und andere, dass sie es auf die erste Seite verdient hätte. (Schon gar nicht für meine 14 jährige Tochter, bei der ich eigentlich das Zeitunglesen fördern wollte.) Ist das die Pressefreiheit, die einen Tag vorher so großartig gewürdigt wurde? Nein, so will ich es nicht verstanden haben.

Der Begriff Demokratie tauchte doch mehrfach auf. Da gibt es eine wechselseitige Beziehung: Die Pressefreiheit verdankt sich nicht nur der Demokratie, sie kann ihr auch dienen. Und wie? Durch Informationen, die von allgemeinen Interesse sind, z. B. was unser Zusammenleben in und zwischen verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft angeht. Das Herausheben eines spektakulären, seltenen Einzelfalls verzerrt unsere Wahrnehmung, lenkt geradezu von wichtigen Themen ab und macht das Gegenteil von dem, was die Zeitung noch zur Demokratie beitragen kann: Ermutigung, Motivierung, Bestärkung ihrer Leser, sich als Mitglieder der demokratischen Gesellschaft für ein gutes Miteinander im Alltag einzusetzen. Stärkung beim Frühstück eben! Sie können das und sollten sich nicht auf ein niedrigeres Zeitungs-Niveau begeben!

Mit freundlichen Grüßen

Leserinname

ANTWORT DES STV. CHEFREDAKTEURS

Von: Thomas Traue <thomas.traue@mt.de> Datum: 10. Mai 2016 um 13:23:42 MESZ
An: Leserinname <name@mailadresse>
Betreff: Ihre Mail an die MT-Redaktion

Sehr geehrte Frau Dr. Leserinname,

vielen Dank für Ihren Leserbrief vom 5. Mai, der bereits online auf MT.de gestellt wurde und in Kürze in der Druckausgabe veröffentlicht wird.
Gerne möchte ich Ihnen – leider etwas verspätet – auch persönlich antworten.

Sie beklagen den Aufmacher-Artikel vom 4. Mai über die Blut- und Gewalttaten eines Paares in Höxter als „aufreißerisch“ und ohne „große allgemeine Relevanz“ für die Leserschaft.

In der Tat sind die Beschreibungen über die „perverse Grausamkeit eines kranken Hirnes“ – wie Sie schreiben – kaum zu ertragen. Doch wäre ein Verschweigen dieser unfassbaren Morde und Geschehnisse, die sich keine 100 Kilometer entfernt in unserer ostwestfälischen Heimatregion ereigneten, eine journalistische Option? Kann man das Böse dieser Welt weglassen in der Berichterstattung? Über den Fall in Höxter wird angesichts der Dimension quer über alle Medien und Kanäle hinweg bundesweit ausführlich berichtet. Selbst der „Spiegel“ widmet ihm eine große Titelgeschichte. Vielleicht haben Sie verfolgt, dass der Täter auch in einem Mindener Anzeigenblatt über Kontaktanzeigen nach Opfern gesucht hatte. Ich denke, die Relevanz der Information ist hier gegeben.

In der MT-Redaktion diskutieren wir angesichts der Informationsflut jeden Tag aufs Neue die Nachrichtenauswahl, insbesondere mit dem Fokus darauf, was wir unseren Leserinnen und Lesern inhaltlich wie optisch anbieten wollen – und (leider) manchmal wohl auch „zumuten“ müssen. Wir sind uns dabei durchaus der unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen in der Leserschaft bewusst. Im Endergebnis läuft es gleichwohl immer wieder auf folgende Betrachtung hinaus: Wollen wir Sachverhalte aufklären, Ungerechtigkeiten anprangern, Fehlentwicklungen und Missstände aufzeigen, dann werden Nachrichten-Journalisten das „Böse“ und „Schlechte“ ebenso wenig ausklammern können wie den Blick auf die menschlichen Abgründe.

Ich kann Ihnen versichern: Die Einordnung und Vermessung der komplexen Nachrichtenwelt ist mitunter ein hartes Brot. Täglich wollen weit über 1000 Nachrichten, hunderte Mails sowie Informationen aus andere digitalen Kanälen beobachtet und bewertet werden.

Ja Frau Dr. Leserinname, ich bin grundsätzlich bei Ihnen: Journalisten sollten sich bei Ihrem Tun grundsätzlich fragen, ob sie nicht viel zu oft ein falsches Bild der Welt zeichnen und bei der Wahrnehmung der Welt vielleicht ihre Filter anders justieren sollten. Diese Debatte wird übrigens in unserem Berufsumfeld seit einiger Zeit schon unter dem Stichwort „Construktive News“ sehr intensiv geführt.

Mit freundlichen Grüßen

Mindener Tageblatt

Thomas Traue
Stellv. Chefredakteur

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